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Steile Karriere, flotter Abgang. Christian Lindner (32) vergangene Woche bei seiner Rücktrittserklärung in Berlin.

© AFP

Junge Politiker: Der dreißigjährige Sieg

Nach Lindners Abgang: Die Politiker werden immer jünger, steigen immer steiler auf – und scheitern schneller. Wofür sollen sie auch kämpfen?

Von Anna Sauerbrey

Er kam ein wenig widerwillig, an diesem Januarabend 1919. Eine Studentenverbindung hatte Max Weber eingeladen, in einer Münchner Buchhandlung über die Politik als Beruf zu sprechen. Doch er kam und brachte einige wenige, wild mit Stichworten beschriebene Zettel mit. Die später gedruckte Rede aber ist von großer Wucht und wird oft zitiert. „Nur wer sicher ist, dass er daran nicht zerbricht“, wirft Weber seinen jungen Zuhörern hin, „wenn die Welt, von seinem Standpunkt aus gesehen, zu dumm oder zu gemein ist für das, was er ihr bieten will, dass er all dem gegenüber ,dennoch’ zu sagen vermag, nur der hat den Beruf zur Politik.“

Dem Mann, der in dieser Woche vor die Mikrofone des Thomas-Dehler-Hauses trat, war ebenfalls ein gewisser Widerwillen anzumerken. Christian Lindner, der jüngste Generalsekretär, den die FDP je hatte, kann sich nicht länger zu einem „Dennoch“ durchringen und gab seinen Rücktritt bekannt. Für’s Erste jedenfalls. Auf Wiedersehen.

Christian Lindner ist 32 Jahre alt. Das Attribut „jüngster Soundso seit Gründung der Bundesrepublik“ muss er wie viele andere ertragen. Kristina Schröder ist jüngste Familienministerin, Karl-Theodor zu Guttenberg war jüngster Verteidigungsminister, Daniel Bahr ist jüngster Gesundheitsminister. Wer selbst zwischen dreißig und vierzig ist, hoffte, die Jungen würden der herablassenden Bezeichnung als „Mädchen“ oder „Boygroup“ Hohn sprechen, würden beweisen, dass Erfahrung nicht alles ist, dass auch Energie und Ideen weit tragen. Doch die Republik schaut den Dreißigern beim Scheitern zu. Kristina Schröder steht im Schatten von Ursula von der Leyen, Philipp Rösler, 38, liefert nicht, Karl-Theodor zu Guttenberg erwies sich als Schaumschläger, und Daniel Bahrs Pflegereform ist viele Nummern zu klein. Keiner von ihnen kann sich zu einem „Dennoch“ aufrichten. Sind sie zu früh berufen? Oder ist das ein Makel ihrer Generation?

Generell ist „dennoch“ kein geliebtes Wort. Der Beruf des Politikers wird als Härte empfunden. Nach dem Rücktritt des Berliner Justizsenators Michael Braun sagte die CDU-Politikerin Cornelia Seibeld, die Maßstäbe seien „völlig irre“. So ein Amt, das schwang mit, tut sich kein normaler Mensch an. Extensive Arbeitszeiten, wenig Budgetspielraum, ein geringes Ansehen, eine vergleichsweise geringe Bezahlung, ständig durchleuchtet (manche sagen: gejagt) von der Presse. Es braucht ein starkes Wollen, um das zu wählen. Es braucht Leidenschaft, Bereitschaft, um einer Sache willen zu leiden.

Vor den Studenten an jenem Münchner Abend 1919 setzte Max Weber sich eingehend mit dieser Leidenschaft auseinander. Er nennt drei Eigenschaften, die den Berufspolitiker qualifizieren: Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß. Er unterscheidet zwischen dem Gesinnungsethiker und dem Verantwortungsethiker. Der Gesinnungsethiker handelt gemäß seiner Leidenschaften, ohne die Folgen seines Tuns einzukalkulieren und schiebt die Schuld für nachteilige Folgen seines Handelns auf die Umstände. Der Verantwortungsethiker hingegen, und er ist nach Weber das Maß des Politikers, handelt mit Augenmaß, er rechnet mit den Defekten der Welt und kalkuliert die Folgen eines Handelns.

Was macht einen guten Politiker aus?

Weber weiß, wie schwierig die Rezeptur für die richtige Mischung aus Leidenschaft und Sachlichkeit ist, wie selten es ist, dass Augenmaß und Leidenschaft „in derselben Seele zusammengezwungen werden können“. Dabei standen ihm die blutigen Folgen entfesselter Ideologen vor Augen: In Russland kämpften die Bolschewiken die übrigen Ideologien nieder. Bei den heute Dreißigjährigen hat sich das Verhältnis von Leidenschaft und Augenmaß, von Gesinnung und Kalkulation, umgekehrt. Wir sind eine weltveränderungsmäßig saturierte Generation. Die großen Ideen sind tot oder umgesetzt. Die Eltern der heute Dreißigjährigen waren keine Nazis und keine Patriarchen, sie taugen nicht als politische Reibungsfläche. Die europäische Idee wird eher aus Gewohnheit denn aus Überzeugung verfolgt. Helmut Schmidt, der sie jüngst auf dem SPD-Parteitag aus den europäischen Kriegen erneut emotional zu begründen versuchte, berührt damit nichts in der politischen Seele dieser Generation. Opa erzählt vom Krieg.

Die erste, prägende politische Erinnerung ist vielmehr der Fall der Mauer. Eindrucksstärker kann man das Versagen von Ideologien kaum inszenieren als in der Flucht der Menschen aus ihrem eigenen Land, als in den Bildern ruinierter Berliner Altbauten, als in den kruden und furchterregenden Entdeckungen im Ministerium für Staatssicherheit. Wer danach noch glaubte, der Sozialismus würde leben, stellte sich auf eine Stufe mit Leuten, die behaupten: Elvis lebt. Zuletzt galt es, die Welt vor dem ökologischen Untergang zu retten, aber auch das ist Mainstream. Wofür soll man noch brennen? Für die Minderung der kalten Progression? Für zwei oder drei Prozent mehr oder weniger Mehrwertsteuer?

In der Folge wird politisches Handeln nicht mehr aus Ideen begründet. Technikfolgenabschätzungen, Stresstests, Kostenrechnungen und Algorithmen sind bestimmend. Webers Mahnung, die Gesinnung mit Verantwortung zu lindern, wird nicht nur übererfüllt. Sie ist selbst zur Gesinnung geworden. Die neue Ideologie heißt Pragmatismus. Und wer pragmatisch denkt, nimmt nichts hin, er erleidet nicht.

An jenem Abend in München kommt Weber am Ende auf das Alter des Politikers zu sprechen. Er selbst habe sich nie mit einem Verweis auf den Geburtsschein in Diskussionen „überstechen“ lassen, sagt er. Es komme darauf an, ein reifer Mensch zu sein, „einerlei ob jung an Jahren“. Weber ist 1919 Mitte fünfzig. Man stellt sich vor, wie er, der auf Fotografien ebenso bekümmert wie streng dreinschaut, den Blick über die jungen Gesichter schweifen lässt. Er schlägt vor, über die Sache in zehn Jahren noch einmal zu sprechen. Und er fragt: „Was wird aus Ihnen allen dann innerlich geworden sein?“

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