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Jurjews KLASSIKER: Im Reich der Fliegenpilze

Mit Ausnahme von „Peter und der Wolf“, das in meiner Kindheit fast ununterbrochen aus dem Küchenradio erklang, mag ich Sergej Prokofjews Musik sehr, aber sprechen wir diesmal über seine Literatur. Dass er ein Meisterwerk der russischen Sprache und Beobachtungsgabe hinterließ, sein 1927 geschriebenes und 1994 auf Deutsch erschienenes sowjetisches Tagebuch „Aus meinem Leben“, ist bekannt.

Mit Ausnahme von „Peter und der Wolf“, das in meiner Kindheit fast ununterbrochen aus dem Küchenradio erklang, mag ich Sergej Prokofjews Musik sehr, aber sprechen wir diesmal über seine Literatur. Dass er ein Meisterwerk der russischen Sprache und Beobachtungsgabe hinterließ, sein 1927 geschriebenes und 1994 auf Deutsch erschienenes sowjetisches Tagebuch „Aus meinem Leben“, ist bekannt. Dass er sagte: Wäre ich nicht Komponist geworden, dann Schriftsteller, wird oft zitiert. Doch nun lässt sich diese Selbsteinschätzung anhand eines sehr schön und stilistisch ansprechend gestalteten Bandes („Der wandernde Turm“, Edition Elke Heidenreich bei C. Bertelsmann, 192 Seiten, 19,99 €) überprüfen wie nie zuvor.

„Der wandernde Turm“ enthält fantastische Geschichten, Grotesken, Märchen. Ein Uhrmacher stirbt. Dank seiner Ausdauer bei den Höllenfoltern wird er vom Satan zum ordentlichen Teufel gemacht und auf die Erde geschickt, zu seinem besten Freund, und zwar in Gestalt einer schönen Frau (leider ist dieser umwerfende Text unvollendet). Ein Mädchen freundet sich mit einem Fliegenpilz an und kommt ins unterirdische Pilzreich. Ein New Yorker Milliardär sieht plötzlich aus dem Fenster seines Büros eine Pyramide, aus welcher der Pharao Psammetich herausguckt ...

Am 23. April 1891 auf dem damals russischen Gut Sonzevka im heutigen Osten der Ukraine geboren, entpuppte sich Prokofjew schnell als Musikwunderkind. Er bekam Privatunterricht von dem namhaften Musikpädagogen Reinhold Glière, der speziell dafür zu ihm gefahren wurde. 13-jährig begann Prokofjew sein Studium am Petersburger Konservatorium. Einige Jahre später galt er als der radikalste Experimentator der russischen Musik. Nach der Oktoberrevolution durfte er, auf Vermittlung des Kulturministers Lunatscharsky, nach Wladiwostok und weiter nach Tokio fahren. In den USA erwartete ihn schon ein amerikanischer Milliardär, der ihm Konzerte und, 1921 in Chicago, die erste Inszenierung der Oper „Die Liebe zu den drei Orangen“ ermöglichte.

Ab 1927 gastierte er wieder in Russland, bis 1936 die endgültige Rückkehr in die Heimat beschlossen wurde. Man nahm an, er sei unpolitisch und wisse nicht, was er tue, doch sein Tagebuch beweist das Gegenteil: Er wusste alles, aber er konnte einfach nicht ohne Russland leben. Als Komponist wurde er in der Sowjetunion hoch geschätzt (sechs Stalinpreise und ein Leninpreis!), was den NKWD natürlich nicht daran hinderte, seine spanisch-polnische Frau, die Sängerin Lina Codina, ins Lager zu schicken. Oder wollten sie ihm einen Gefallen tun (er lebte seit sieben Jahren mit einer anderen Frau zusammen)? Er starb am gleichen Tag wie Stalin – am 5. März 1953. Zum Moskauer Begräbnis kamen aber nur wenige – und ohne Blumen. Die waren schon bei der Abschiedszeremonie des Tyrannen verschwendet worden.

Die Publikationsgeschichte des „Wandernden Turms“ ist rührend. Der Konzertgitarrist Lucian Plessner fand in der Moskauer Wohnung Sergej Eisensteins (heute ein kleines Museum) eine alte sowjetische Musikzeitschrift mit drei Texten Prokofjews, die Plessner so faszinierten, dass er sich mit Prokofjews Erben in Kontakt setzte. Das Ergebnis ist dieses Buch, von Plessner und A. Kravtsova sehr gut übersetzt. Als Prosaautor ist Sergej Prokofjew zweifellos der russischen klassischen Moderne verpflichtet – genauer gesagt, der symbolistischen Prosa der zehner Jahre. Diese elf Erzählungen (einige von ihnen unvollendet) schrieb er in den Jahren 1918 bis 1921, überwiegend in Zügen, die ihn von einem Auftritt zum anderen durch Amerika fuhren. Er liebte Züge, und er liebte es, in Zügen zu schreiben.

Was Prokofjews Prosa von den Kurzerzählungen der russischen Symbolisten (Brjussow, teilweise Sologub, Zinaide Annibal), die zum Teil unter dem krankhaften Bierernst großer Mystiker litten, unterscheidet, ist sein Humor. Nicht umsonst wurden seine Geschichten „Hoffmanniaden“ genannt, ein im 19. Jahrhundert auf der Welle der allgemeinen Beliebtheit von E.T.A. Hoffmann in Russland entstandener Begriff. Kurz gesagt, jeder dieser elf Texte bereitet dem Leser Vergnügen.

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