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Urteil. Richterin Fiona (Emma Thompson) verfügt über Leben und Tod.

© Concorde

Justizdramen im Kino: Die Schutzbefohlenen

Die Selbstbestimmung der Kinder und der Wille der Eltern: Mit „Nach dem Urteil“ und der McEwan-Verfilmung „Kindeswohl“ starten gleich zwei Dramen über das Dilemma zwischen Recht, Freiheit und Moral.

Julien ist elf, die Eltern sind getrennt, es gab häusliche Gewalt, er will seinen Vater nicht sehen. Die Richterin fällt ein anderes Urteil. Die angebliche Bedrohung sei nicht bezeugt, heißt es in der Anhörung, jedes zweite Wochenende soll das Kind nun zu Antoine – „Nach dem Urteil“ von Xavier Legrand.

Adam ist 17, er hat Leukämie, die Eltern sind Zeugen Jehovas. Auch Adam ist überzeugt, dass sein Glaube die Zufuhr von Blutprodukten verbietet. Lieber stirbt er, als seine Seele zu verunreinigen. Die Richterin fällt ein anderes Urteil. Adams Leben sei wichtiger als seine Würde, sie ordnet die Transfusion an – „Kindeswohl“ von Richard Eyre, nach dem Roman von Ian McEwan.

Milieustudie über häusliche Gewalt

Entscheidungen im Gericht, selbst über Leben und Tod, werden oft in nur wenigen Minuten gefällt. Ihre Folgen, zumal für betroffene Kinder, erfahren die Juristen meist nicht. Die beiden Filme, die diese und nächste Woche starten, zeigen die Dilemmata auf, die der Konflikt zwischen Recht, Freiheit und Moral in sich birgt. Beide sind Schauspielerkino, beide beginnen als Gerichtsdrama, beide verteidigen das Recht der Kinder auf Selbstbestimmung gegen die Erwachsenen, die sich bei aller Sorge nur selbst im Blick haben. Wer hört den Kindern schon zu?

Xavier Legrands Sozialthriller folgt einer Dramaturgie der Angst. „Nach dem Urteil“ schlägt den Zuschauer mit Horrorelementen und kühler Beobachtung in seinen Bann. Nüchtern konstatiert die Kamera die Verzweiflung der Mutter (Léa Drucker), die Fragilität des tapferen Julien (Thomas Gioria), die latente, bald immer offenere Gewaltbereitschaft des Vaters (Denis Ménochet), der den Sohn unter Druck setzt, um ihm die Adresse und Handynummer seiner Ex abzupressen. Keine Psychologie, kein Soundtrack, nur Close-ups auf Juliens panisch verschrecktes Gesicht und die Aggressivität des nervenzerrenden Warnsignals, wenn sich einer im Auto nicht anschnallt. Eine Milieustudie mit Neustadt-Sozialwohnung, überforderten Großeltern und alleingelassenen Opfern. Alle zweieinhalb Tage stirbt in Frankreich eine Frau an den Folgen häuslicher Gewalt, sagt Legrand.

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Auch Richard Eyres Moritat mit Emma Thompson als Familienrichterin Fiona setzt Geräusche als diskretes narratives Moment ein (Radiowecker, piepsender Wagenschlüssel, Klinikapparaturen), bedient sich jedoch vor allem der Mittel des Melodrams. McEwan schrieb selbst das Script, er hält sich eng an den Romanplot. Fionas Ehe mit Jack (Stanley Tucci) steckt in der Krise; die Richterin flüchtet sich in ihre Fälle. Emma Thompson, ein Star seit „Was vom Tage übrig blieb“, verkörpert einmal mehr eine starke, immer gefasste Frau, deren festgezimmertes Vernunftgebäude Risse bekommt, als sie Adam (Fionn Whitehead) im Krankenhaus besucht. Zwischen ihnen entspannt sich ein wortreicher Disput, man singt gemeinsam, hegt Sympathien. Als der genesene Adam seiner Retterin nachstellt, gerät Fiona in heftige emotionale Verwirrung.

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Das Milieu: Londons kultiviertes Großbürgertum, der Alltag am High Court (mit Jason Watkins als karikaturesk beflissenem Sekretär). Die Richterin spielt Bach am Klavier und zitiert Yates, beim Weihnachtsfest der Anwaltskammer konzertiert Fiona mit einem Kollegen. „Kindeswohl“ gibt sich so distinguiert wie der Roman. Very British, ein wenig zu (selbst-)gefällig, mit überdeutlichem Soundtrack und eher schlicht psychologisierenden Szenen, wenn etwa die akut überhöhte Herzfrequenz von Adam sich durch bloßes Handauflegen der Krankenschwester wieder beruhigt. Mehr Emotion, weniger Ratio, so die Moral.

Dann lieber die Härte von „Nach dem Urteil“. In beiden Filmen spitzt sich die Handlung dramatisch zu, beide machen klar, welche Tragik Rechtsprechung nach sich ziehen kann, selbst wenn sie nach bestem Wissen und Gewissen erfolgt. Aber beide befleißigen sich ihrer ästhetischen Mittel mehr, als den Sujets guttut. Legrands ästhetischer Minimalismus reduziert den Vater auf ein Monster und ärgert einen spätestens dann, wenn Juliens fast volljährige Schwester (Mathilde Auneveux) den Blicken verborgen bleibt, als sie einen Schwangerschaftstest macht. Da sind nur eine Toilettentür, ein paar Boots und eine zu Boden fallende Test-Verpackung. Eigentlich geht es ja darum, wie das Mädchen sich vor seiner Herkunftsfamilie viel zu früh in die eigene Familiengründung flüchtet.

Eyres Ausstattungskino wiederum erweist sich zu guter Letzt ganz simpel als die Geschichte einer Eherettung. Die Kraft, wie man sie von den britischen Bourgeoisie-Dramen aus dem Hause Merchant/Ivory erinnert, entwickelt „Kindeswohl“ dabei nicht.

„Nach dem Urteil“ in 8 Berliner Kinos, OmU: Eva, fsk, Kulturbrauerei, Moviemento. „Kindeswohl“ startet am 30. 8.

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