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Kultur: Kafka trifft Beethoven

Man fragt sich schon, warum es Daniel Barenboim immer wieder nach Berlin an die Lindenoper zurückzieht.Zumindest wenn man ihn in Chicago erlebt, wo er auch dem Chicago Symphony Orchestra vorsteht, und sieht, was sich diese Stadt um ihn herum einfallen läßt.

Man fragt sich schon, warum es Daniel Barenboim immer wieder nach Berlin an die Lindenoper zurückzieht.Zumindest wenn man ihn in Chicago erlebt, wo er auch dem Chicago Symphony Orchestra vorsteht, und sieht, was sich diese Stadt um ihn herum einfallen läßt.Nicht umsonst hat er seinen Vertrag gerade auch wieder verlängert.Zwar ist hier am Chicago River, da der Staat sich fast gar nicht darum kümmert, die kulturelle und zivilisierte Fassade genauso dünn und trügerisch wie die Marmor- und Granitoberfläche der einst so revolutionären Stahlskelett-Wolkenkratzer.Und trotzdem werden augenblicklich in Chicago die Theater nicht geschlossen, sondern gleich mehrere renoviert und wiedereröffnet.

Beim Chicago Symphony Orchestra (CSO) schließlich, trotz Art Institute, Lyric Oper und neuem (Kleihues-)Museum of Contempory Art, der kulturelle Leuchtturm, hat sich bereits in der ebenfalls zuendegehenden 107.Saison die 110 Millionen Dollar teure Renovierung der letzten September glanzvoll wiedereröffneten Symphony Hall gelohnt.Nicht nur, daß die etwas trockene Akustik des überholten und umgebauten, äußerlich aber nur dezent veränderten Gebäudes viel besser geworden ist, das Publikum bequemer sitzt und alle Mitarbeiter des CSO angenehmer arbeiten können - bis hin zum Billardraum mit Schachecke und Nickerchen-Refugium für die Musiker.Aus Symphony Hall wurde Symphony Center, ein multifunktionales, über jetzt drei Gebäude verteiltes Unternehmen, das viel mehr ist als nur ein Symphonieorchester.Und das auch Massen zu verkraften in der Lage ist.Beim ersten "Tag der Musik", an dem 24 Stunden lang das Haus von Klängen jedweder Art durchweht wurde, nutzten 20 000 die kostenfreie Chance, nicht nur Pierre Boulez livehaftig zu erleben.

Henry Fogel, Manager des Chicago Symphony Orchestra, faßt die Überlegungen, die vor einigen Jahren zu Umbau- und Umstrukturierungen des altehrwürdigen Gebäudes führten, so zusammen: "Das CSO ist eine Organisation, die auf dem höchstmöglichen Niveau klassische westliche sinfonische Musik für die Leute spielt, die sie sowieso schon mögen und sich die nicht billigen Preise leisten können.Das ist ein Auftrag, auf den wir nicht besonders stolz sind".Ein solchen Satz würde man von einem deutschen Orchesterintendant wohl nie zu hören bekommen.Man will für breite Teile der Gesellschaft eine Rolle spielen.Deshalb hat das CSO sein Haus jetzt für Musikveranstaltungen aller Art geöffnet - nur Niveau müssen sie haben.Und zehn Dollar pro Jahr zahlende Mitglieder des "Rush-Club" dürfen eine Minute vor Beginn für 25 Dollar auf die leergebliebenen Parkettplätze hetzen.

Auch den Erziehungsauftrag nimmt man sehr ernst.Deshalb sind viele der mehr als 1200 freiwilligen (und unbezahlten) Helfer des Orchesters damit beschäftigt, die Botschaft des CSO in Stadt und Land zu tragen.Im diesem Herbst, zu Beginn der 108.Saison, die nicht nur mit sechs Uraufführungen zu weiten Teilen dem 20.Jahrhundert vorbehalten ist, wird dann auch endlich, nach einer langen Trainings- und Erprobungsphase Echo eröffnet, das millionenteure, selbstverständlich auch gesponsorte Educationcenter im eigenen Haus.In der interaktiven Lernstation können Kinder und Erwachsene eigene Musikstücke komponieren und unter Daniel Barenboims (Video-)Anleitung beim CSO etwa das Tamtam mitspielen: "Das war perfekt", sagt der digitale Maestro, wenn man im Takt geblieben ist.Simon Rattle, der beim virtuellen Kollegen Barenboim einmal mitspielen wollte, soll das (im ersten Anlauf) nicht gelungen sein.Das gerade Erlernte wird anschließend mit Musiklehrern aus Fleisch und Blut auf richtigen Instrumenten erprobt.Mit einer Computer-Musicbox kann man CSO-Aufnahmen anwählen (leider nicht die superwitzige Blubbermusik der "Seepferdchen-Serenade", die sich Augusta Read Thomas Composer-in-Residence des CSO, für die entsprechende Ausstellung im tollen John G.Shedd Aquarium ausgedacht hat); die Web-Seiten informieren über alle CSO-Aktivitäten.Und nach getaner Lernarbeit können sich die Älteren einen Stock tiefer, im schönen, immer gut besuchten "Rhapsody"-Restaurant einen echten Capucchino gönnen.Das ist Orchesterkultur made in Chicago.

Als Höhe- und Schlußpunkt dieser(Neu-)Eröffnungssaison hat sich Daniel Barenboim eine szenische Opernaufführung vorbehalten.Nicht zum ersten Mal, schon 1992 gab es in der Symphony Hall Mozarts da Ponte-Trilogie.Nun folgt - die CSO-Barenboim-Saison war wie in Tokio und London und bald in Berlin und Paris ganz Beethoven gewidmet - dreimal "Fidelio".Alexander Schulin, an der Lindenoper als Regisseur erwachsen geworden, machte aus der Platznot des Konzertpodiums und den nur vier (aber intensiven) Probentagen eine Konzeptionstugend und konzentrierte sich vor einer riesigen Wand voller Aktenordner (Bühne: Christoph Sehl), mit von Joachim Herzog entworfenen 20er-Jahre-Kostümen ganz auf die Personenkonstellationen.Es ist eine unspektakuläre, die Handlung nie verbiegende Sichtweise.Eine kafkaeske Bürowelt voller Schreibtischtäter, intensiv und ehrlich, dramatisch unterstützt von dem spektakulären Licht von Kenneth Posner - bis nach dem Freiheitsdrama, der machtvolle Chicago Symphony Chorus wird nur als Konzertklanggruppe mit den Noten in der Hand auf dem Balkon eingesetzt, das Oratorium sich breit macht.

Für Amerika, wo "Fidelio", wenn überhaupt, dann nach wie vor brav im historischen Gewand vor Pappgefängnismauern inszeniert wird, wo das Publikum innerhalb einer Saison sich nicht mit so unterschiedlichen Sichtweisen a la Marthaler, Wernicke, Kresnik, Hilsdorf, Kusej auseinandersetzen kann, war das gewagt - und trotzdem ein Erfolg.Zumal der Literaturprofessor Edward Said, mit dem Barenboim nächstes Jahr in Weimar zusammen mit dem Cellisten Yo-Yo Ma an einem Projekt namens "West-Östlicher Diwan" arbeiten wird, das israelische und palästinensische Musiker zusammenführt, neue, englische Zwischentexte geschrieben hat.Darin wird die Utopie des Finales, Gattenliebe und Freiheitstraum, immer wieder in Zweifel gezogen.Nach der ersten Euphorie, die sogar die Aktenordner aus dem Regal zum Absturz brachte und dahinter die Menschen sichtbar werden läßt, kehrt wieder der graue Alltag ein.Beim letzten Ton sitzt Leonore, die die Texte als Rückblick teils live, teils über Lautsprecher vorgetragen hat, allein in der Ecke.

Leonore, das ist die fabelhafte Waltraud Meier mit ihrem sensationellen Rollendebüt; was sie hier in Symphony Hall, weit weg, aber doch vor einem wissenden Publikum, bereits mit Donna Elvira (nicht so erfolgreich) und Isolde (Weltklasse) erprobt hat.Nervig und gespannt, mit dramatischer Gewalt und lockerer Stimmführung singt die Meier die Partie.Koloratur und Spitzentöne klappen prima, selten hat man in letzter Zeit eine so vollgültige, auch als Figur glaubwürdige Leonore ohne jeden Einbruch vernommen.Darum werden sich bald die Bühnen in Europa reißen.

An ihrer Seite bis auf den brav orgelnden Minister von Marc McCroy, lauter alte Berlin-Bekannte: Thomas Moser als starkstimmiger, doch unheldentenoraler Florestan, unter eine Aktenstellage verbannt; René Pape, ein wunderbarer Rocco, noch spießiger, kriecherischer, devoter als sonst; Carola Höhn, etwas flackrig als Büromamsell-Marcelline im grauen Schneiderkostüm; Jaquino (Endrik Wottrich) mit dem Pistolenhalfter unter dem Arm und Pizarro (Ekkehard Wlaschiha) im Nadelstreifen als kleiner und großer Handlanger der Macht.

Daniel Barenboim und sein gut aufgelegtes Chicago Symphony Orchestra hatten die Zügel in der Hand.Von der unaufdringlich rhythmisch vorangetriebenen Leonoren-Ouvertüre Nr.2, die den Anfangsmonolog der Leonore langsam überdeckt, über das dramatisch gegliederte erste Finale, die düstere Kerkerwelt und den hellen, nie schmetternden Abstraktionsschluß, eine sinnvolle, sinnige Lesart.Beethoven, den kann er.

In der Pause, höchst entspannend im Sessel lümmelnd, auf Berlin angesprochen, sagt Barenboim, trotz so viel Wohlwollens im Saal: "In Europa ist das eben doch noch etwas anderes, beglückenderes.Chicago und Berlin, das läßt sich nicht vergleichen, das lebt auch aus dem Kontrast." Dann macht er klar, daß er seine beiden Posten nach dem Jahr 2000 nicht unbedingt zur Verfügung stellen will.Nur über die Bedingungen, über Anwesenheit und Titulatur müßte gesprochen werden.Denn Daniel Barenboim möchte einfach wieder mehr am Stück Klavier spielen.Und knackt dazu vielsagend mit den Fingern.

MANUEL BRUG

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