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Kultur: Kammerspiel am Nil

Neues von der Semi-Stagione-Front: Franco Zeffirelli eröffnet die Mailänder Scala mit Verdis „Aida“

Wer zu Franco Zeffirelli nach Mailand reist, hat keine Illusionen. Der 84-Jährige, der für seine Bühnenbilder am liebsten selbst sorgt, ist der letzte echte Ausstattungshuber der italienischen Oper, ja der letzte Regisseur auf Erden, so verkündete er höchstselbst am Tag der diesjährigen Inaugurazione in der „Repubblica“, der die Oper wirklich liebt. Luca Ronconi und Pier Luigi Pizzi seien alt geworden (!), Giorgio Strehler tot, die Salzburger Festspiele seit Jahrzehnten verloren, und schuld an allem sind eh nur die modernistisch verwirrten, Schindluder treibenden Deutschen. Solche Analysen zur Situation des internationalen Musiktheaters hört man in Mailand gern.

Wer also zu Zeffirellis weltweit fünfter „Aida“ an die Scala reist, der weiß, dass die Kaschierer und Requisiteure des hohen Hauses wieder einmal alle Hände voll zu tun gehabt haben: Sphinxen und Pharaonen-Statuen, bis die nicht eben kleine Bühne aus allen Nähten platzt, riesige ägyptelnde Reliefs, bemooste Felslandschaften, meterhohe Standarten, die jeder „Meistersinger“-Festwiese zur Ehre gereichten (nur eben vom Nil), Palmenwedel, Säulen, Schreine, Räucherstäbchen. Pyramiden-Kitsch vom Weihnachtsmarkt, nur leider gar nicht orgiastisch-subversiv. Biederes Hollywood. Und nicht die geringste Spur davon, dass dieses Stück ein Seelenfäden spinnendes Kammerspiel ist, mit messerscharf disponierten Ausbrüchen in den Größenwahn, ins Tableau. Am Ende jedenfalls fehlten wirklich nur die Elefanten. Prompt konnte das honorig besetzte Premierenparkett vor „Bellissimo!“-Zwischenrufen kaum an sich halten. Und auch die Ehepaare Prodi und Merkel oben in der Königsloge machten entspannte, sonnige Gesichter.

Nun lebt der Italiener seit jeher ganz anders auf die Oper hin als der Deutsche. Der Italiener liebt den Belcanto, und zwar im wahrsten Wortsinn, den schönen Gesang, die erotische Überwältigung durch überwältigende Stimmen. Renata Tebaldi und die Callas, Birgit Nilsson, Leontyne Price, Jessye Norman und Montserrat Caballé, sie alle waren an der Scala schon einmal Verdis Aida, und das heißt etwas. Der Deutsche hingegen will – nicht erst seit Wagner – das Drama, die Geschichte, ein wie auch immer geartetes Gesamtkunstwerk, mal kulinarisch, mal kritisch. In den vergangenen 30, 40 Jahren hat dieser Mentalitätsunterschied zu einer schier irreversiblen Entfremdung geführt: Die Deutschen mögen mit dem Regietheater hadern – sie haben es immerhin hervorgebracht. Während die Italiener trotzig ihren Zeffirelli feiern, als hätte dieser das ewige Leben. Die Alpen als ästhetisch-ideologische Wasserscheide.

Genau da setzt Stéphane Lissner, der seit einem Jahr amtierende Scala-Intendant, zum Spagat an. In der aberwitzig kurzen Zeit bis 2009 (so lange läuft sein Vertrag) will er das altehrwürdige Teatro alla Scala dem europäischen Musikleben, nun ja, zurückgeben. Es mit gewissen Standards in Sachen Regie, Marketing, Besetzungspolitik schonend kompatibel machen. Das Alleinstellungsmerkmal des Mythos allein, so der Musikmanager Lissner, sichere noch keinen Bestand. Womit er zweifellos recht hat. Die Querelen um den Abgang seines Vorgängers Riccardo Muti, die Überwinterung während der dreijährigen Umbauphase im Teatro degli Arcimboldi, dies alles hatte der Psyche des Musentempels schwer zugesetzt. Therapie tat not und tut es noch.

Denn Lissners Pläne – so flugs sie zu greifen scheinen – haben Schwächen. Der Franzose mag alljährlich ein anderes italienisches Opernhaus zum Gastspiel laden (diesmal das Teatro San Carlo Neapel mit Paisiellos „Socrate Immaginario“), er mag die Anzahl der Vorstellungen von 160 sukzessive auf 224 erhöhen wollen, und er gibt sogar, zähneknirschend, die Leitung des Festivals von Aix en Provence auf, um sich dem Semi-Stagione-Betrieb der Scala voll widmen zu können: Der Verdacht, dass diese zur nächsten koproduzierenden Euro-Opernschleuder degeneriert, wie Barcelona, wie das Pariser Chatêlet, ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Dann sieht hier wie da wie dort endgültig alles gleich aus und irgendwie so wie Luc Bondy oder Patrice Chéreau in den fetten achtziger Jahren. Aus „deutscher“ Perspektive. Einerseits.

Andererseits und aus italienischer Sicht muss Lissner darum bemüht sein, das heimische Publikum nicht zu vergrätzen. Seit 1997, nach einem Dreivierteljahrhundert staatlich-städtischer Förderung, ist die Scala eine private Stiftung, in der sich öffentliche und nicht-öffentliche Sponsoren die Hand reichen. Lissner, dem für sprudelnde Budgets ein Händchen nachgesagt wird, hat sich also stets ganz unmittelbar zu verantworten. Das bedeutet: Unter Umständen ist die Kunst so frei nicht. Das fängt beim persönlichen Geschmack der Verantwortlichen an und hört bei Auslastungszahlen und Kassenstürzen nicht auf.

In diesem Sinne ist Zeffirellis fünfte „Aida“ das Zuckerl der Saison, ein taktisches Sedativum für alle latent erregten Gemüter. Nur, italienische Frage: Lassen diese sich tatsächlich so billig abspeisen? Riechen nicht selbst konservativste Kulinariker Lunte, wenn namhafte Sänger drei Stunden lang völlig ungerührt frontal nach vorne singen, wenn polternde Umbauten regelmäßig die Musik übertönen, wenn zwei Pausen (!) einem jedes Restinteresse am Schicksal von Verdis äthiopischer Sklavin im alten Ägypten rauben, und wenn, was das Ärgste ist, den festlichen Abend lang keine festliche Stimmung aufkommen will? Sagt nicht der ganze Schlendrian schon: So geht es nicht, und zwar nirgends mehr? Nein, sagt er offenbar nicht. Schon hat Lissner, der Taktiker, Terrain gewonnen.

Und, deutsche Frage: Zuckerl, vorauseilender Trost – wofür? Für eine Spielzeit, in der alles dermaßen gut abgehangen und vorgeschmeckt ist, dass weder etwas passiert noch passieren kann? Lehnhoffs „Lohengrin“ aus Baden-Baden, Bondys Uralt-„Salome“ aus Salzburg, Stéphane Braunschweigs Pariser „Jenufa“ mit Anja Silja, Richard Jones’ „Lady Macbeth von Mzensk“ aus London mit Evelyn Herlitius, Bernsteins „Candide“, wiederum in Koproduktion mit dem Chatêlet, inszeniert von Robert Carsen – das ist das kommende Semi-Stagione-Glück (in dem demnächst ja auch die Berliner Lindenoper mitmischt). Dazwischen ein bisschen Italianità und ein bisschen Ballett und nach der Sommerpause gar eine Uraufführung, Fabio Vacchis Kurden-Oper „Teneke“, dirigiert von Roberto Abbado. Und dann ist schon bald wieder Dezember.

Vielleicht hätte Giuseppe Verdi den Abend retten können. Vielleicht ist es aber auch so, dass die gehobene Ausstattungstapete den Zugang zur Musik mindestens so verstellt und zukleistert wie bisweilen das böse Regietheater. Die Ohren hören, was die Augen sehen. Entsprechend schwer tat sich Riccardo Chailly am Pult des Scala-Orchesters, zu einer differenzierten Lesart der Partitur zu finden. Ein paar schöne Kantilenen, ja, einige gefühlvolle Rubati. Ansonsten aber setzt er doch sehr auf Effekt, auf die dicken Knallfrösche im Triumphmarsch, in den Akt-Finali.

Violeta Urmana ist eine feine, kultiviert singende Aida ein bisschen ohne Unterleib, als habe sie mit dem Wechsel ins dramatische Sopranfach alle Resonanzen und jede Tiefe eingebüßt. Roberto Alagna als Radames kriegt seine hohen C und schmückt diese bekräftigend gerne mit allerlei Schluchzern aus, Ildiko Komlosis Amneris agiert trotz schönen Charaktermezzos meist viel zu laut und zu pauschal. Am Ende, fürs Grabmal der beiden unglücklich Liebenden, darf dann noch die neue Bühnenhydraulik zeigen, was sie kann. Lautlos rauf, lautlos runter. Schrankenloser Jubel für alle. Und wirklich kein einziges Buh.

Christine Lemke-Matwey

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