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Kultur: Kann man mit Worten die Wahrheit sagen - oder nur interpretieren? Philosophen suchen nach der Antwort

Ist die philosophische Hermeneutik zu einer "Zivilisationsökumene" geworden? Mit dieser Frage leitete der Philosoph Rüdiger Bubner das Kolloquium ein, das am vergangenen Sonnabend aus Anlass des 100.

Ist die philosophische Hermeneutik zu einer "Zivilisationsökumene" geworden? Mit dieser Frage leitete der Philosoph Rüdiger Bubner das Kolloquium ein, das am vergangenen Sonnabend aus Anlass des 100. Geburtstages von Hans Georg Gadamer, dem Vater der theoretischen Auslegungskunst, in der Heidelberger Ruprecht-Karls-Universität stattfand.

Freilich scheint das Problem, auf das Gadamer vor vierzig Jahren in "Wahrheit und Methode" eine Antwort suchte, im derzeitigen kulturellen Minimalkonsens, in dem alles Interpretation ist, versunken. Denn in all seinen philosophischen Überlegungen ging es Gadamer immer gerade um die Möglichkeit, zu verbindlicher Erkenntnis zu kommen - auch unter den kommunikativen Bedingungen einer Verzeitlichung und Versprachlichung der Vernunft. Seine Interpretationstheorie setzte bei der Wirkungsgeschichte der Texte an und versuchte, sie vor dem Horizont ihrer eigenen Tradition zu verstehen; einer Tradition, in der auch wir als Interpreten stehen, ohne dass sie uns noch trägt. Naheliegend also, den Blick darauf zu lenken, wie führende, der hermeneutischen Gedankenbewegung in unterschiedlichem Maße nahestehende Philosophen sich diese Tradition selbst angeeignet haben.

Ein wuchtiger Satz aus "Wahrheit und Methode" diente als Kristallisationspunkt der Festvorträge unter anderem von Richard Rorty und Gianni Vattimo: Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache. Man kann das als bloßen Hinweis auf die sprachliche Verfasstheit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit lesen. In diesem Diktum aber liegen auch philosophische Abgründe.

Das revisionistische Programm Richard Rortys ist hierzulande längst eine feste Bezugsgröße, und gewiss zieht der in Stanford lehrende Philosoph die weitgehendsten Folgerungen aus einer auch hermeneutisch informierten Ausgangslage. In Heidelberg focht er erneut gegen die metaphysische Erblast einer universellen und unbedingt geltenden Erkenntnis. Sein Vortrag nahm die Sonderstellung zum Ausgang, die in der modernen Philosophie traditionell den Naturwissenschaften zuerkannt wird, wonach sich dem Zugriff der Physik das wahre Sein der Dinge offenbaren soll. Nun ist aber, so Rortys Argumentation, mit der linguistischen Wende der Philosophie ein Verständnis von Wahrheit und Erkenntnis unabweisbar geworden, das Wahrheit nicht mehr über ihre Entsprechung zu einer außersprachlichen Realität definiert, sondern über den kohärenten Zusammenhang unserer Überzeugungen. Und mit der Entdeckung, dass auch die Wissenschaften nicht unmittelbar Wirklichkeit begreifen, sondern in Abhängigkeit von historisch sich wandelnden Paradigmen, wurde eine hermeneutische Dimension in die Wissenschaftsphilosophie eingezogen. Folglich kann es gar nicht um Einsicht ins Wesen der Dinge gehen, vielmehr geben wir Beschreibungen von der Welt.

Gewiss gibt es auch für Rorty Beschreibungen, die besser sind als andere. Aber sie sind dies nicht, weil sie "richtiger" sind, sondern weil sie uns mehr zu verstehen geben. Eine bessere Darstellung ist schlicht eine, mit der sich eine größere Menge von anderen Beschreibungen und Phänomenen in ein kohärentes Ganzes integrieren läßt.

In Rortys Anverwandlung entwindet Gadamers Satz nicht nur den herrschsüchtigen Metaphysikern ("control freaks") die objektive Welt, sondern er macht das Verstehen zu einem endlosen Verständigungsprozess, der sich nur aus sich selbst heraus erneuert. Wenn Gadamer, wie Habermas einmal formulierte, die Provinz seines Lehrers Heidegger urbanisiert hat, dann verwandelt Rorty sie in eine Kulissenstadt aus Pappmaché. Ironisch überführt er Gadamers Philosophie der Traditionsaneignung in seine eigene Philosophie der Traditionsüberwindung. Denn Rorty drängt nicht auf Sanierung, sondern auf Abriss eines ererbten Begriffskomplexes von Wahrheit und Objektivität, an dessen Stelle die Philosophie-als-Vokabular gestellt werden soll - eines unter vielen kulturellen Sondervokabularen, das zu unserer Vervollkommnung als moralische Gemeinschaft wie als private Individuen dienen soll.

Auch Gianni Vattimo (Turin) sieht im hermeneutischen Denken keine konservative Kraft der Traditionsbewahrung. Vattimo explizierte den Sinn der Gadamerschen Hermeneutik mit einer Abwandlung der berühmten Marxschen Feuerbach-These: Bislang glaubten die Philosophen, die Welt nur zu interpretieren, aber sie haben sie verändert. Denn der eigentliche Gehalt der Hermeneutik liegt in einer Gleichsetzung von Wirklichkeit und Wirkungsgeschichte, in deren Licht wir uns verstehen müssen. Indem wir uns selbst und die Wirklichkeit, die uns begegnet, nur im Horizont unserer Geschichtlichkeit interpretieren können, greifen wir in die Wirklichkeit ein.

So wenig wie Rorty möchte Vattimo seinen Hermeneutikentwurf als metaphysische Beschreibung der Welt, wie sie tatsächlich ist, verstanden wissen; er sieht in ihm eher das adäquate Selbstverständnis einer Epoche beschrieben. Darum ist ihm aber auch das Überlieferungsgeschehen ein normatives Medium. Dass wir nur sprachlich und nur Sprachliches verstehen können, eröffnet also nicht schlechthin den Raum des unendlichen Gesprächs. Bei aller Verflüssigung der Objektivität des Verstehens geht es Vattimo um das rechte Wort, das es zu finden gilt, um die gelungene Interpretation, die sich in den Kategorien richtig/falsch bemisst, wie wir sie aus der Tradition gewinnen.

Und was hielt Gadamer von der Traditionsaneignung, die hier an seinem Werk am Werke war? Als der Hundertjährige in dem mit vier Philosophengenerationen gefüllten Hörsaal um einen kurzen Kommentar gebeten wurde, äußerte er seine Verwunderung. Hatten die soeben gehörten Vorträge wirklich die tieferen Motive seines Denkens berührt? Vielmehr schienen sie ihm noch zu sehr von der "Beherrschung durch das Denken" auszugehen, von der Metaphysik also statt von der Lebenswelt. Konziliant fügte er an: Aber vielleicht ist es ja doch so, dass der Interpret den Autor besser versteht, als der sich selbst.

Michael Adrian

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