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Aufwachen! Die heiligen drei Könige schlafen fest unter ihrer Decke. Säulenkapitell im Kapitelsaal der Kathedrale von Autun, 12. Jahrhundert.

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Kapitellkunst der Romanik: Die hohe Botschaft

Kino für den lieben Gott: Über die Kunst der romanischen Steinmetze, auf Kapitellen von Kindern, Flüchtlingen, Rettungsaktionen und Höllenqualen zu erzählen.

Zum Beispiel die Affen. Sitzen in über zwanzig Metern Höhe im Querschiff von Cluny und machen Turnübungen. Man muss den Kopf schon sehr weit nach hinten legen und braucht ein gutes Kamera-Objektiv, um ihre Athletenbeine bewundern zu können. Wahrscheinlich haben sie sich von den Verrenkungen all der Akrobaten inspirieren lassen, die sich auf anderen Kapitellen in Frankreichs romanischen Kirchen finden.

Oder die beiden Streithähne in Anzy-le-Duc, im Süden Burgunds. Zerren einander böse an den Bärten, auch stellt der eine dem anderen ein Bein, als sei das Fußball-Foul ein religiöser Brauch. Oder die schlafenden drei Weisen im Kapitelsaal der Kathedrale St. Lazare in Autun, weiter nördlich in Burgund. Da kuscheln sich die Heiligen Drei Könige unter einer schön verzierten Decke zusammen, sieht gemütlich aus, der Betrachter hört sie förmlich schnarchen. Von dem Engel, der ihnen etwas verkünden möchte und den nächstliegenden König mit dem Finger anstupst, lassen sie sich so schnell nicht wecken.

Die Geburt Jesu verpassen sie jedenfalls, die auf einem anderen Kapitell im Kirchenschiff von St. Lazare erzählt wird. Von wegen Stall und arme Flüchtlinge, das hier ist Weihnachten de luxe: Maria liegt ordentlich im Bett und hat gleich zwei Hebammen zur Seite. Die eine badet gerade das Baby im Bottich, nur Josef macht mal wieder nicht mit. Die Augen fallen ihm zu, vielleicht macht ihm auch die Zukunft Sorgen – typisch frischgebackener Vater.

Der Traum der Weisen, die unter einer Decke stecken, ist Teil der Weihnachtsgeschichte in der Kathedrale von Autun, samt Ankunft und Anbetung der Könige sowie der Flucht nach Ägypten mit einem zauberhaft lächelnden Esel. Ach wenn es so einfach wäre, das Flüchtlingsleben. Wer sich all die in Stein gehauenen Stories in der Kathedrale St. Lazare anschauen will, es sind über 50, ist ein paar Stunden beschäftigt – und hat hinterher Nackenstarre. In der gewaltigen Abteikirche von Cluny, einst das geistliche und monastische Zentrum des Abendlandes, soll es sogar 1200 Kapitelle gegeben haben, Geschichten für tausendundeinen Kirchengang. Aber was haben die in Stein gehauenen Ornamente und Figuren so hoch oben im Kirchenschiff zu suchen? Handelt es sich um Kino für den lieben Gott? Langweilt er sich, brauchen auch höhere Wesen gelegentlich Unterhaltung?

Kapitelle waren wie Wandfresken Bild(ungs-)programme für Analphabeten

Die romanische Steinmetzkunst ist jedenfalls beides, Schönheit zu Ehren des Höchsten und Erbauung fürs Fußvolk. Wer die Kirchenbank drückt, hebt ohnehin gern mal den Blick. Und nicht alle Figurenkapitelle verstecken sich in schwindelnder Höhe. Nur wenige Menschen konnten lesen im Mittelalter: Wie die Fresken an den Kirchenwänden, die Tafelmalereien auf den Seitenaltären oder die Jüngsten Gerichte über den Eingangsportalen sind die Kapitelle Comics für Analphabeten. Mit geflügelten Löwen, geschwänzten Vögeln, Monstern, Kentauren und anderen Fabelwesen. Mit verführerischen Evas, gefolterten Heiligen, apokalyptischen Reitern, Paradiesflüssen, Tugend-Allegorien, gefallenen Engeln und all den Helden aus der Bibel, aus Fabeln und Legenden. Auch Szenen mit Bauern, Winzern, Fischersleuten wurden in Stein gemeißelt. Und vor allem Teufel, immer wieder Teufel. Monster mit Feuerhaaren, Horrorfratzen, Ekelzungen, Krallen, Hörnern, Riesenohren. Die Angstlust des Mittelalters.

Die Flucht nach Ägypten gehört zu den schönsten Säulenkapitellen in St. Lazare im burgundischen Autun.
Die Flucht nach Ägypten gehört zu den schönsten Säulenkapitellen in St. Lazare im burgundischen Autun.

© imago

Ein fantastisches Bild- und Bildungsprogramm findet sich hier, vor allem im Burgund, dem Eldorado für Kapitell-Freunde. Action, Horror, Schlachtengetümmel, Märchen, Melodram, Komödie, Fantasy, Dokumentarszenen – die heutigen Blockbuster-Genres sind alle vertreten. Was immer zwischen Himmel und Hölle kreucht und fleucht, auf den Kapitellen ist es verewigt. Sex and crime, die ganze imaginierte große weite Welt en miniature. Viele waren früher knallbunt koloriert.

In St. Nectaire in der Auvergne gibt es Nilungeheuer und musizierende Esel

Der Kreativität der Steinmetze waren offenbar kaum Grenzen gesetzt. Zu den skurrilsten Kapitellen in Autun gehört die Arche Noah. Das Flüchtlingsboot sitzt auf dem Berg Ararat , eine Art Hausboot, zwei Vierbeiner gucken aus dem Fenster, als seien es Ochs und Esel im Stall von Bethlehem. Aus der oberen Luke sondiert ein Mann – Noah? – die Lage. Rechts wird Proviant vom Schiff geladen, links ein Kind hinausgehievt. Oder hinein? Schön jedenfalls, dass das alttestamentarische Rettungsschiff nicht nur einen Platz für Tiere hat, sondern auch Menschen Asyl gewährt.

In St. Nectaire in der Auvergne findet sich auf einem Kapitell ein Krippenkind, das von wilden, nach Art der Bremer Stadtmusikanten übereinander getürmten Tieren bedroht wird. Ist aber nicht Jesus, sondern Moses in seinem Papyrusbinsenkörbchen. Die Tochter des Pharaos rettet ihn gerade gemeinsam mit einem Schlagstock-bewehrten Begleiter vor den Nilkrokodilen (mit Ohren, so stellte man sie sich in der Auvergne wohl vor). Ein unbegleiteter Minderjähriger, den die reichen Ägypter willkommen heißen – noch so eine frohe Botschaft. Auf einem Kapitell ganz in der Nähe greift ein zotteliger Esel in die Leier.

Und oben schauen Ochs und Esel hinaus. Die Arche Noah auf dem Berg Ararat, Säulenkapitell in Autun.
Und oben schauen Ochs und Esel hinaus. Die Arche Noah auf dem Berg Ararat, Säulenkapitell in Autun.

© privat

Nicht dass die Bedeutung beliebig wäre. Der musizierende Esel ist ein Sinnbild der spirituellen Dummheit, Äsop hat ihm bekanntlich eine Fabel gewidmet. Die Steinmetze mischten Glauben und Aberglaube, lokale Sagen, Bibelstories, Mythen, Volksweisheit, fromme Lehre. Kapitellkunst ist die Kunst der Verwandlung, Stein gewordenes Staunen.

Die Metamorphose begann einst damit, dass steinerne Stützen die Holzpfähle ersetzten. Weil am Kopf – caput –, dem Übergang vom Gebälk zur Stütze, die meiste Last von oben ankommt, sind die Säulen dort besonders dick. Sie quellen aus, auch unten bei den Basen. Gleichzeitig entwickelten die Baumeister, ob in Ägypten, Griechenland oder in nördlicheren Breitengraden, den Ehrgeiz, die Schwerkraft Lügen zu strafen. Sie wollten es nicht allzu plump, lockerten die Fassaden auf, durchbrachen die Massigkeit der Wände, nahmen den Konstruktionsteilen ihre Kantigkeit und Härte.

Die Steinmetze der Romanik waren ungeheuer erfinderisch

Besonders tobten sie sich bei den Eingangshallen der Kirchen aus und fingen an, die Bogenfelder über den Portalen mit Tympana ausschmücken zu lassen. Und bei den Säulen: Die Wulste am oberen Ende eigneten sich gut für Sakralkunst. Also wurden Steinmetze mit der Ausführung von Ornamenten und floralem Schmuck beauftragt, ab etwa 1100 auch mit figürlichen Reliefs. Damit es leichter, luftiger, lustiger aussieht.

Monster und Dämonen waren besonders beliebt, hier der Geiz-Teufel mit Geldsack, auch in Autun.
Monster und Dämonen waren besonders beliebt, hier der Geiz-Teufel mit Geldsack, auch in Autun.

© privat

Die Steinschneider wurden nicht müde, die Formenvielfalt zu vermehren, erfanden Falten-, Pfeifen-, Schild-, Doppelwürfel-, Ranken-, Blüten-, Kelchknospen-, Zungenblatt- und Adlerkapitelle. Vor allem die Mischfiguren faszinieren bis heute. Die Geometrie, die in Blattwerk übergeht. Der abstrakte Steinblock, der – Punkt Punkt Komma Strich – mit Gesichtszügen versehen wird. Die Pflanze, die menschliche Konturen erhält. Die Chimäre, halb Mensch, halb Tier. Und der Zahn der Zeit, der auf einem Kirchenwandrelief von Sainte-Foy im abgelegenen Tal von Conques die Köpfe der Heiligen flachgeschmirgelt hat, als trügen sie Schafsgesichter.

Die Jüngsten Gerichte über den Eingangsportalen waren moralische Anstalten

Oft herrscht drangvolle Enge. Wer geschickt genug mit dem Meißel umgehen konnte, brachte halbe Bibel-Kapitel auf einem Steinblock unter. Oder unsichtbare Kostbarkeiten wie die Musik. Die mysteriösesten Kapitell-Kunststücke wurden in der Abteiruine von Cluny gefunden, in der auf zwei Säulen je vier Medaillons mit Darstellungen der gregorianischen Tonarten untergebracht sind. Acht Töne, acht Stimmungen, acht Charaktere, auch in Autun sind sie vereinzelt zu finden.

Besonders mysteriös: Darstellungen der Musik, etwa der vierte Ton der gregorianischen Tonleiter - der Klageton mit Totenglöckchen - in der Abtei von Cluny.
Besonders mysteriös: Darstellungen der Musik, etwa der vierte Ton der gregorianischen Tonleiter - der Klageton mit Totenglöckchen - in der Abtei von Cluny.

© Éditions du Patrimoine

Zum Beispiel der vierte Ton, im Modus des Klagens. Ein Mann trägt ein Joch mit Totenglöckchen dran, eine weitere Glocke hängt an seinem Arm. Kopf zur Seite, eleganter Hüftschwung, dreht oder windet er sich? Ein Gekreuzigter, gekrümmt im Schmerz? Ein Tempeltänzer, der durch die Luft wirbelt?

Es bleibt immer ein rätselhafter Rest. Auch bei den Jüngsten Gerichten über den Eingangsportalen, diesen moralischen Anstalten der Kirchenkunst. Gut oder Böse, Himmel oder Hölle, du hast die Wahl – und jetzt tritt bitte ein. Klar machte den Steinkünstlern genau wie den Malern à la Hieronymus Bosch die Hölle mehr Spaß, mit Gruselszenarien voller folternder, sadistisch grinsender Satansbraten. Aber auch bei den himmlischen Heerscharen lässt sich Wagemutiges entdecken. Im Tympanon von Autun sitzt die Muttergottes hoch oben neben dem thronenden Christus unerhört breitbeinig da. Elegant gefälteltes Gewand, coole, selbstbewusste Körperhaltung, Demut geht anders. Dieser Maria macht keiner was vor. Nicht einmal Gottes Sohn.

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