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Kultur: Kaputte Umwelt, kaputte Kinder - doch Jacques Doillon spart sich die Soziallektion

Killeraugen hat sie, haben die Kinder gesagt und sie deshalb Tyson genannt, nach Mike Tyson, dem Boxer. Wahrscheinlich muss man Killeraugen haben wie Talia, und eine Pistole zur Verteidigung, wenn man zwölf Jahre alt ist, in einem heruntergekommenen Pariser Vorort lebt und der Stiefvater gerade die beste Freundin vergewaltigt hat.

Killeraugen hat sie, haben die Kinder gesagt und sie deshalb Tyson genannt, nach Mike Tyson, dem Boxer. Wahrscheinlich muss man Killeraugen haben wie Talia, und eine Pistole zur Verteidigung, wenn man zwölf Jahre alt ist, in einem heruntergekommenen Pariser Vorort lebt und der Stiefvater gerade die beste Freundin vergewaltigt hat. Oder man hat einen Hund.

Was für ein süßer Hund, haben die Kinder gesagt, mit ihm gespielt und ihm die Hand ins Maul gelegt. Wahrscheinlich ist auch ein Pitbull ein zahmes Haustier, wenn man ihn liebt und verwöhnt, und wenn er am Ende doch noch zum Kampftier erzogen werden soll, geht das nicht gut: Beiß oder stirb, heißt die Devise, und wenn ein Hund bislang nur Liebe kannte, stirbt er daran.

Hunde, die zu Kampfmaschinen erzogen werden, Kinder, die mit Pistolen herumfuchteln: Die Botschaft von Jacques Doillons jüngstem Film "Petits frères" ist offenkundig. Die Umwelt ist es, die Kinder verdirbt. Trotzdem ist es keine Soziallektion, die der französische Regisseur erteilt, auch wenn sein Film nebenbei auch ein Bild der arabisch-afrikanischen Mischgemeinschaft in französischen Trabantenstädten zeichnet. Doillons kleine Laiendarsteller sprechen Verlan, die Kunstsprache der Vorstädte, in der die Silben verdreht werden, sie erzählen von ihren Träumen und Wünschen und auch offen von ihren Konflikten. "Scheißaraber" und "Nigger" nennen sie sich gegenseitig - und sind doch die besten Freunde.

Rassismus, Kriminalität, Arbeitslosigkeit, Gewalt? Jacques Doillon, der wie kaum ein anderer französischer Regisseur mit Kindern arbeiten kann, einer, der ihnen ihre Natürlichkeit lässt, ihnen geduldig zuhört und sie als Darsteller für voll nimmt, sucht auch in diesem Milieu ein anderes Thema. Wie schon in seinen Filmen "Der kleine Gangster" und "Der junge Werther" erzählt er vom Ende der Kindheit und Unschuld, erzählt eine Liebes- und Freundschaftsgeschichte, eine Geschichte von Ehrlichkeit, verlorenem und wiedergefundenem Vertrauen, von Mut und Treue. Und er erzählt davon, was es heißt, Kind zu sein in einer Welt, wo Kinder künftige Verbrecher sind.

Nassim, Mous, Rachid und Iliès sind "die Kleinen" in der Pariser Retortenstadt Pantin. "Klein", das heißt in der Hackordnung von Pantin: Gerade gut genug für Handlangerdienste. Einen gestohlenen Lieferwagen ausräumen, Schmiere stehen, einen Hund oder ein Fahrrad klauen: Die "Großen", die Brüder, Cousins, Nachbarn setzten die "Kleinen" gerne ein, weil sie als Minderjährige noch nicht strafbar sind - und die sind auch noch stolz darauf. "Ich bin noch kein richtiger Gangster, ich muss noch etwas wachsen", erklärt Mous sein Lebensziel, und Iliès legt nach: "Wir sind wie Cheerleader, wir passen die Bälle zu ihnen, sie passen zurück - doch es sind sie, die schießen."

Mit Talias Ankunft im Viertel wird die Freundschaft der Gruppe auf eine harte Probe gestellt. Ihren Hund Kim entführen, das scheint den Kindern zunächst ein wunderbarer Coup, der Geld bringt und zudem ungefährlich ist. Erst als Talia hartnäckig nach ihrem Hund fahndet, erst als sich Iliès, der Älteste der Gruppe, in das Mädchen verliebt und auch die anderen ihrer Furchtlosigkeit Hochachtung zollen müssen, geraten die kleinen Gangster in einen Gewissenskonflikt. "Wir suchen den Hund, wir bringen ihn zurück", versprechen sie der neuen Freundin, wohl wissend, dass der Hund gerade zum Kämpfen abgerichtet wird. Dass Freundschaft und Liebe als Hinhalte-Instrument eingesetzt werden - diese bittere Lektion wird Talia lernen, und darüber zornig werden und einsam. Killeraugen - ja, die hat sie, aber die Killer sind die anderen.

Erst als es zu spät ist, setzt bei den Freunden die Reue ein. Eine Reue, die mit wunderbaren kleinen Gesten bewiesen wird. Da legt Iliès seinen Lieblingspullover mit dem Hund ins Grab, da besorgt Mous einen neuen Welpen, da stehlen die Kinder schließlich ein Hochzeitskleid, um in einer aberwitzigen Zeremonie die Verbindung zwischen Talia und Iliès zu feiern. "Wir sind eine Gruppe, du gehörst zu uns", beschwören sie die verlorene Solidarität. Zu diesem Zeitpunkt aber ist es längst zu spät: Talia hat handeln gelernt. Sie hat ihre kleine Schwester vor den Nachstellungen des Stiefvaters gerettet, sie hat sich selbst einen Platz im Heim besorgt, und die Ansprache, die sie als "Braut" auf der Hochzeitsfeier hält, ist eine Abschiedsrede. Ein Abschied von der Kindheit, der gleichzeitig ein Neuanfang ist.In den Kinos Hackesche Höfe und fsk am Oranienplatz (beide OmU)

Christina Tilmann

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