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Der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgard, geboren 1968 in Oslo

© Thomas Wagström/Verlag

Karl Ove Knausgård: Die Jahreszeitenbücher: Ich zeige dir die Welt

Wenn Stühle zu Erinnerungsspeichern werden und Züge zu Symbolen der Sehnsucht: Karl Ove Knausgård betrachtet in seinen Jahreszeitenbänden die Dinge des Alltags und der Natur.

Einmal beschäftigt sich der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård intensiv mit Q-tips. Also mit diesen kleinen Wattestäbchen, die in vielen Badezimmern in irgendwelchen Behältnissen lagern und mal mehr, meist jedoch weniger in Gebrauch sind. Knausgård beschreibt ihre Form und wie sie verwendet werden. Er wundert sich über die Befriedigung, die es ihm verschafft, sich den Ohrschmalz zu entfernen oder auch Mitesser auszudrücken oder Finger- oder Zehennägel zu schneiden oder abzureißen, ohne für diese seltsamen Befriedigungen eine befriedigende Erklärung zu finden.

Und er fragt sich, ob das jetzt nicht zu weit geht mit den Objektbeschreibungen aus dem intimsten Inneren des Alltags. „Das ist immer die Gefahr, wenn man über Intimes schreibt, man kann sich lächerlich machen, und nur wenig ist für einen Schriftsteller bedrohlicher.“ Schließlich konstatiert er, zurück im Badezimmer, dass man in diesem die Tür abschließen und Sorge dafür tragen könne, „dass man allein ist, wenn man sich dem Intimen widmet. Sollte es lächerlich sein, spielt es keine Rolle, niemand wird es jemals erfahren.“

Nun hat sich bekanntlich gerade Karl Ove Knausgård mit seinem sechsbändigen autobiografischen Romanprojekt „Min Kamp“ jahrelang sehr bewusst der Gefahr der Lächerlichkeit ausgesetzt. Selbstquälerisch aufrichtig hat er darin aus seinem bisherigen Leben erzählt, insbesondere sich selbst, aber auch manche seiner Familienmitglieder entblößend, vor Intimitäten nie zurückschreckend. Was seinem Erfolg nur förderlich war.

Nicht viel anders ist das nun bei seinem neuen Projekt, das er direkt nach dem Abschluss von „Min Kamp“ und trotz des letzten Satzes darin, nie wieder eine Zeile schreiben zu wollen, in den Jahren 2012 und 2013 begann: die sogenannten Jahreszeitenbände. Von denen ist im September der erste, „Im Herbst“, auf Deutsch erschienen. Dieser Tage folgt „Im Winter“, im kommenden Frühjahr dann „Im Frühling“ und „Im Sommer“.

Die Aufteilung auf gleich vier Bücher, so logisch sie erscheint, ist typisch für den 1968 in Oslo geborenen Schriftsteller, typisch für seinen Hang zum Ausladenden, zu Ordnungsprinzipien. Gleichzeitig stellen diese Bände zumindest formal das Gegenteil zu Knausgårds monumentaler Autobiografie dar. Sie bestehen aus kurzen, jeweils nicht mehr als drei, vier Seiten langen Betrachtungen über zahlreiche Dinge des menschlichen Alltags und Phänomene der Natur. Der Ausgangspunkt sind Briefe, die Knausgård an seine ungeborene Tochter schreibt, das vierte Kind, das er mit seiner Frau Linda haben wird. Er will ihr die Welt zeigen, den „Gartenstuhl an der Mauer unter dem Küchenfenster“ genauso wie Sonne und Mond, Wasser und Feuer. Und weil er weiß, dass seine Tochter irgendwann die Welt mit eigenen Augen sehen wird, gesteht er, „dass ich dies natürlich vor allem mir selbst zuliebe tue: Dir die Welt zu zeigen, meine Kleine, macht mein Leben lebenswert.“

Knausgård wollte auch mal was anderes schreiben als über sich selbst...

Wenn das nicht intim ist. Zumal Knausgård später auch die Besuche mit seiner Frau bei der Gynäkologin schildert und das, was er auf den Ultraschallbildern sieht; auch dem Geruch von Urin, erbrochenen Mageninhalten oder Toilettenschüsseln widmet er Aufmerksamkeit. Der Herbstband beginnt mit Äpfeln, Wespen, Plastiktüten und der Sonne, das Winterbuch mit dem Mond, mit Wasser, mit Eulen, um nach und nach zu Alltagsgegenständen wie Münzen oder Stühlen zu kommen. Es geht Knausgård darum, all das ganz naiv, wie ein Kind das erste Mal zu betrachten, jenseits der Selbstverständlichkeit, die viele Dinge im Lauf der Zeit für jeden bekommen.

So beginnen seine Miniaturen häufig mit bloßen Beschreibungen. Zum Beispiel, dass Wespen einen zweigeteilten Körper haben und der hintere Teil aussieht wie „ein kleines Osterei“, mit dem „gelb-schwarzen Muster, der glänzenden Oberfläche und der abgerundeten Kegelform“. Oder dass ein Stuhl zum Sitzen dient, vier Beine hat, „auf denen eine Platte liegt, von deren hinterem Ende eine Rückenlehne aufsteigt“.

Nach solchen zwar präzisen, aber nicht übermäßig erhellenden Einstiegen öffnet Knausgård plötzlich Räume. Da wird es universell, da ist er den Geheimnissen der Dinge auf der Spur, ohne ihnen diese mit aller Macht nehmen zu wollen. Er begreift, „ebenso erfüllt von Glück wie Trauer“, was Freiheit ist, als er mit seinen Kindern einen wild im Wald stehenden Apfelbaum entdeckt und die Kinder ihn fragen, ob sie welche davon essen können. Der Mond ist für ihn „das Auge des Todes“, das Feuer das „Zeitlose, das wir beschwören, wenn wir ein Feuer entfachen, und das es so schön und so schrecklich macht“; die Fahrt des Zuges, Züge überhaupt „eine Gestaltung der Sehnsucht selbst“.

Dass selbst Stühle viel, viel mehr als bloße Sitzgelegenheiten sein können, leitet er mit einer Szene aus dem Ingmar-Bergman-Film „Fanny und Alexander“ her. Darin nimmt der Vater an einem Weihnachtsabend einen x-beliebigen Stuhl und erzählt den gebannt zuhörenden Kindern eine fantastische Geschichte darüber, dass dieser Stuhl einst einer chinesischen Prinzessin gehört habe. Ein paar Tage später wird der Vater sterben, und so überlegt Knausgård, dass dieser Stuhl für die Kinder zeit ihres Lebens etwas Besonderes haben werde, weil sie sich bei seinem Anblick immer dieser Geschichte erinnern. Mehr aber noch, dass es ihr Vater war, der sie ihnen erzählte, „und es wird der Mensch sein, der er war, stellt man sich vor, an den sie sich erinnern, wenn sie den Stuhl sehen, dass er einer dieser seltenen Menschen war, die die Welt öffneten, und sie nicht schlossen.“

... doch sind viele dieser Miniaturen Erinnerungssplitter, die "Min kamp" ergänzen

Als Knausgård seine „Min Kamp“Bände „Träumen“ und „Kämpfen“ in Deutschland vorstellte, sprach er in Interviews davon, dass er sich mit den Jahreszeitenbüchern überzeugen wollte, „auch über anderes schreiben zu können als über mich selbst“. Das mag ihm mit mancher dieser Miniaturen gelungen sein. Trotzdem tragen sie in ihrer Gesamtheit starke autobiografische Züge, man kann sie durchaus als „Min Kamp“ ergänzende Erinnerungssplitter begreifen. Die Familie, gerade das Heranwachsen der Kinder, das Leben mit ihnen in dem aus drei Häusern bestehenden Anwesen in der Nähe von Malmö, ist Anlass für viele der Betrachtungen, in Form von Geburtstagsfeiern, Schneewehen, Weihnachtsfesten, Kuscheltieren oder der Unordnung im Haus. Hier und da taucht der Vater auf, erinnert sich Knausgård, wie dieser – er ist hier nur „der Mann“ – eine Kreuzotter grundlos mit einem Stein tötet, „ich würde mir immer noch wünschen, er hätte das nicht getan“. Und immer wieder schürft er in der Tiefe der eigenen Kindheit nach Exemplarischem, von Stiefeletten bis zu den Auffälligkeiten der siebziger Jahre.

Knausgård zeigt sich einmal mehr als leidenschaftlicher, aber stets reflektierter Erinnerungskünstler. Aus dem Allgemeinen und Unspektakulären des eigenen Lebens versteht er es, das Besondere, das Staunenswerte, oft Unbegreifliche des Daseins zu machen. Und das in einem angemessenen, ruhigen, leicht melancholischen Ton, der allerdings immer dann an Schärfe und Dringlichkeit gewinnt, wenn es um das Schreiben geht. „Wenn der Gewohnheit ein Platz in der Literatur zugestanden wird und nicht außerhalb von ihr“, heißt es am Ende von „Im Winter“, „ist sie keine Literatur mehr, sondern nur noch ein Gerüst fürs Leben.“ In diesem Sinn hat Karl Ove Knausgård mit den Jahreszeitenbänden sehr ungewöhnliche Bücher geschrieben.

Karl Ove Knausgård: Im Herbst. Mit Bildern von Vanessa Baird. Im Winter. Mit Bildern von Lars Lerin. Beide aus dem Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand, München 2017. 286 S., 22 € und 310 S., 22 €.

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