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Museum der Flucht. Aus dem ehemaligen Notaufnahmelager in Berlin-Marienfelde ist eine Erinnerungsstätte geworden. Hier kam einmal auch die Autorin an.

©  Kitty Kleist-Heinrich

Katerina Poladjan über die Flucht nach Berlin: Eine Spur von Adresse

Auf dem ersten Dokument stand: Duldung, staatenlos. Die Schriftstellerin Katerina Poladjan über ihr Berlin, diese Stadt, wo man fremd und zu Hause zu gleich sein kann.

Jeder Mensch träumt von einem vollkommenen Ort. Ein Ort, zu dem man sich hinwenden kann, ein Ort von dem man sich abwenden kann. Im besten Fall ist dies ein Ort, wo man sich finden kann. Manchmal sind solche Orte gar nicht real, sie können überschrieben werden durch Schichten von Geschichten und Zuweisungen aus fremden Federn und Mündern, werden wieder leer, werden ortlose Orte.

Ich mache mir einen Ort zu eigen. Ich lege mir eine Spur von Adresse zu: Am Hauptbahnhof vorbei, über die Brücke, an der Kathedrale links, und neben dem Parkhaus, da wohne ich.

Es war das Jahr 1979, wir waren in Wien und warteten auf eine Ausreisegenehmigung nach Neuseeland. Auch von Kanada schwärmte mein Vater, dort wüchsen allerdings die Kiwis nicht an jedem Baum. Die Kiwi faszinierte ihn, wo er die Frucht in Wien entdeckte, kaufte er eine.

Es gibt Orte, die kennt man, auch wenn man nie da war

Eines Morgens lernte er im Waschsaal unserer Wiener Unterkunft einen gewissen Eduard kennen, der wie wir aus Moskau geflohen war und bald nach West-Berlin ausreisen wollte. Dort gebe es Arbeit (ein russisches Restaurant sollte folkloristisch gestaltet werden), eine Ausreisegenehmigung sei dadurch kein Problem. Mein Vater kaufte einen Bildband über Berlin und ich dachte, Berlin sieht aus wie Moskau. Warum soll ich dort hin?

Es gibt Orte, die man kennt, auch wenn man noch nie dort war. Orte wie Berlin oder Marseille oder Moskau, beschrieben in unzähligen Büchern und Filmen, besungen, bereist, bestaunt, verloren, verlassen, verflucht.

In einer Blütezeit dieser Städte – diese Städte zeichnen sich dadurch aus, dass einem dort immer etwas blüht – wurde ich in einem fernen Land hinter einem eisernen Vorhang zwischen den grauen Mauern und unter den funkelnden roten Sternen einer Stadt geboren, deren Geruch und Geschmack mir auch heute noch gegenwärtig ist, wenn ich nur kurz die Augen schließe und mich besinne.

Das erste Gefühl ist eine tiefe Ratlosigkeit

Wir sind vor einer Utopie geflohen, sagte man mir, als ich fragte, warum wir unser Zuhause verlassen hatten, das doch meine Welt gewesen war, so wie ich die Welt damals verstand.

Mein erstes Bild in Berlin ist die Marienfelder Allee. Der erste Gedanke ist, die Busse riechen anders. Das erste Gefühl ist eine tiefe Ratlosigkeit. Das erste Wort in Berlin ist Hello.

Der erste Raum ist ein Zimmer im Notaufnahmelager Marienfelde mit drei Etagenbetten, zwei Schränken, einem Tisch mit Wachstuchdecke, einer kleinen Herdplatte, einem Teekessel, sechs Tellern und sechs Tassen und Besteck.

Auf unserem ersten Dokument in West-Berlin stand: Duldung. Status: staatenlos.

Die Autorin Katerina Poladjan
Die Autorin Katerina Poladjan

© Rowohlt

Meine Eltern mussten sehr viele Formulare ausfüllen, wir mussten immer auf irgendetwas warten, für verschiedene Marken anstehen, Essensmarken, Kleidermarken. Meine Eltern benahmen sich sonderbar hilflos. Ich sah, wie unruhig ihre Augen waren, wie sie zusammenzuckten, wenn sie angesprochen wurden, wie ihre Hände zitterten. Unsere Zukunft gehorchte Spielregeln, die sie nicht erfassten und vielleicht bis heute nicht erfasst haben. Dasein, Zukunft und Vergangenheit überschlugen sich. Die Hilflosigkeit meiner Eltern war ihre Sprachlosigkeit. War meine Sprachlosigkeit. Es gab ein Außen und ein Innen. Das Innen waren unsere Betten, über die wir Handtücher hängten, um ein Stück Intimsphäre zu haben, unsere Hände, an denen wir uns hielten und unsere Sprache. Das Außen war alles andere.

Die meisten Mitbewohner im Notaufnahmelager kamen aus der DDR und sprachen Deutsch. Natürlich. Deutsch sprachen auch meine Mitschülerinnen und die Mütter meiner Mitschülerinnen, die mich fragten, wovor wir geflohen seien. Ich habe immer korrekt geantwortet: Wir sind vor einer Utopie geflohen.

Was würdest du dir aussuchen im KaDeWe?

Nach einigen Monaten entdeckte meine Mutter den Bus zum Kurfürstendamm. Fast täglich fuhr sie mit mir dorthin, wir schlenderten durch das Kaufhaus des Westens und betrachteten all die Gegenstände, von denen in den Ländern der angewandten Utopie geträumt wurde. Wenn du dir etwas aussuchen dürftest, was würdest du nehmen, fragte mich meine Mutter. Aber wie sollte ich mich entscheiden? Zu welchem der unzähligen Dinge sollte ich mich bekennen? Ich fühlte mich klein, ich verachtete die Menschen, die all diese Dinge haben mussten und kaufen konnten.

Die stickige Luft im Kaufhaus benebelte uns, und ich erinnere mich, dass meine Mutter an der Kasse um eine KaDeWe-Tüte bat. Im Bus zurück ins Lager legte sie ihre Handtasche in die Tüte und platzierte sie selbstverständlich auf ihren Knien. Wahrscheinlich sah ich aus dem Fenster, vielleicht löste ich einfache Rechenaufgaben. Wir kamen zu spät zur Essensausgabe ins Lager zurück, und meine Mutter sagte, wir sind doch satt, es gab so viel zu sehen.

Heimat ist zufällig

Das Lager und der Kurfürstendamm waren für fast zwei Jahre meine Welt. In der Schule war ich das Russenmädchen, doch wenn ich meine Adresse angeben musste, log ich. Emilienstraße 44 klang gut, ich wollte am Nachmittag Kaffee und Kuchen und verlangte nach einem deutschen Adventskalender. Den Akzent meiner Eltern habe ich gehasst, meine Mutter sollte schweigen, gleichzeitig hatte ich ein schlechtes Gewissen. Sie sollte sein wie die anderen, ich wollte sein wie die anderen, verachtete mich selbst dafür und blieb in meinen Bemühungen hilflos lächerlich.

Meine deutsche Staatsbürgerschaft erhielt ich neun Jahre später. Und nun? So etwas muss ich gedacht haben.

Irgendwann kam ich nach Hamburg, brachte meine Tochter zur Welt, zum Kindergarten, später zur Schule, lauschte der Sinfonie einer Hafenstadt und stand oft an den Landungsbrücken, dachte dort an die überfüllten Dampfer, die von dort in eine alte neue Welt aufgebrochen waren. Die Geschichte derjenigen, die eines Tages Fremde sind, bleibt immer ihre eigene. Sie mag ihnen selbst sicher und unsicher zugleich sein, sie mag aus dieser oder jener Perspektive erzählt und verzerrt werden, niemand kann sie ihnen wegnehmen. Heimat ist zufällig. Der Weg führt mal in die eine Richtung, mal in die andere Richtung.

Berlin war Verheißung, wofür auch immer.

Museum der Flucht. Aus dem ehemaligen Notaufnahmelager in Berlin-Marienfelde ist eine Erinnerungsstätte geworden. Hier kam einmal auch die Autorin an.
Museum der Flucht. Aus dem ehemaligen Notaufnahmelager in Berlin-Marienfelde ist eine Erinnerungsstätte geworden. Hier kam einmal auch die Autorin an.

©  Kitty Kleist-Heinrich

Ich betrachtete Berlin aus der Ferne und besuchte Freunde, die sich Berlins Mythenlandschaft hingaben. Berlin war nicht mehr Marienfelde und auch nicht Kurfürstendamm. Berlin war Mitte und Prenzlauer Berg. Berlin war Verheißung, wofür auch immer. Ein offenes Feld für alle Arten von Provinzfantasien und echten Ausnahmezuständen. Wenn ich nach einem Besuch zurück nach Hamburg kam, atmete ich erleichtert auf und zog doch einige Jahre später wieder nach Berlin. So, als sei dies unabwendbar.

Kürzlich bin ich mit der S-Bahn wieder nach Marienfelde gefahren. Priesterweg, Attilastraße, Marienfelde. Unter den zerfressenen Wolken des jungen Januarmorgens hatte man die Überreste der Silvesternacht zu bunten Haufen gekehrt. Bei „Jörgs Curryoase“ kaufte ich eine Flasche Wasser und einen Filterkaffee zum Mitnehmen.

Nirgendwo ist man so selbstverständliche Ausländerin und Deutsche

Das Haupthaus des Notaufnahmelagers ist heute eine Erinnerungsstätte, ein Museum der Flucht. Ich ging durch die Räume, lauschte den Geschichten vom Band, betrachtete Kuscheltiere hinter Glas, die von der Flucht Narben behalten haben, weil in ihren Bäuchen Wertgegenstände versteckt waren oder wichtige Papiere. Es gibt nachgebaute Schlafkammern, Küchen und Waschräume. Ich legte mich auf ein stählernes Etagenbett und wurde vom Pförtner ermahnt. Ich habe hier mal gewohnt, sagte ich, und er zuckte die Schultern.

Nirgendwo ist man so selbstverständlich Ausländerin wie in Berlin. Nirgendwo wird man so selbstverständlich Deutsche. Nirgendwo paart sich hässliche Geschichte so elegant mit einer hysterisierten Weltoffenheit und entfesseltem Individualgeist. In Berlin muss man das, was man sagt, nicht beweisen. In Berlin wechseln die Gesprächspartner, aber der Inhalt bleibt gleich. Das beruhigt die Fremden und die Scheinfremden und die Gestrigen und die Gebliebenen. Will man sich verstecken, geht das in Berlin oder im eigenen Kopf.

Die Stadt lässt sich nicht deuten

Vielleicht ist das der Grund, warum ich in Berlin lebe. Die Stadt lässt sich nicht deuten. Wir leben hier nebeneinander, miteinander im Westen und im Osten (im Norden und Süden) von dort und hier, und wenn wir miteinander schweigen, so reicht auch das.

In den Baracken hinter dem Museum der Flucht in Marienfelde leben immer noch oder wieder Geflüchtete, zurzeit vorwiegend aus Afghanistan und Syrien. Ich kam mit einer jungen Frau ins Gespräch, die mit ihren drei kleinen Kindern auf dem Weg in die Wäschekammer war. Sie lebt mit ihrer Mutter und den Kindern in einem Zimmer, ihr Mann ist verschollen. Sie kamen über das Meer, kamen durch diese und jene Stadt, und in Berlin wollen sie bleiben. Warum? Weil Berlin jetzt ihr Zuhause ist.

Katerina Poladjan wurde 1971 in Moskau geboren und lebt als Schriftstellerin und Schauspielerin in Berlin. Zuletzt erschien von ihr bei Rowohlt der Roman „Vielleicht Marseille“. Den Text „Eine Spur von Adresse“ schrieb sie für „Das Weiße Meer – Literaturen rund ums Mittelmeer“, eine Reihe des Literarischen Colloquiums Berlin, unterstützt von der Allianz Kulturstiftung. Thema ist diesmal, am 8. Februar um 19 Uhr, „Marseille – Berlin: Tore zu anderen Welten“. Weitere Teilnehmer sind Jaroslav Rudiš, Stanislaw Strasburger, Philippe Pujol, Thierry Fabre, Christian Garcin und Leyla Dakhli.

Katerina Poladjan

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