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Der Polizist Krauss (Will Poulter) zwingt die Gäste des Algiers Motels (hier Jacob Latimore) zu einem "Todesspiel".

© Concorde

Kathryn Bigelows „Detroit“: Schüsse aus der Vergangenheit

Amerikas Rassismus: Kathryn Bigelow rekonstruiert in „Detroit“ die blutigen Kämpfe der Sechziger. Ein virtuos gefilmter Ausnahmezustand.

Von Andreas Busche

„Change was inevitable“, heißt es am Anfang von Kathryn Bigelows „Detroit“ über die fünftägigen Ausschreitungen im Sommer ’67. Veränderung ist unausweichlich. Und weiter: Es ist nur eine Frage der Zeit. Den Kontext dieser Aussage stellt eine Reihe animierter Bildtableaus her, die die Migration von Afroamerikanern zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus den Südstaaten in die Industriemetropolen des Nordens illustrieren. Der naive Animationsstil ist inspiriert von Jacob Lawrence’ Bilderzyklus „Migration Series“, einer beeindruckenden Chronik der black experience im 20. Jahrhundert. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte eine zweite „Migrationsbewegung“ ein. Der Exodus der weißen Bevölkerung in die Vorstädte überließ den schwarzen Familien weite Teile der Innenstädte; die Folge war eine städtebauliche „Ghettoisierung“. Sozialer Sprengstoff, der in den Aufständen der sechziger Jahre gipfelte. Watts, Harlem, Detroit.

Oscar-Preisträgerin Kathryn Bigelow, bis heute die einzige von der Academy ausgezeichnete Regisseurin, und ihr Autor Mark Boal, die schon beim Irak-Drama „The Hurt Locker“ und bei „Zero Dark Thirty“ über die Jagd auf Osama Bin Laden zusammenarbeiteten, legen gleich in den ersten Minuten Wert auf den zeitgeschichtlichen Kontext. Sie benutzen das Wort change ganz bewusst, es besitzt ebenfalls eine politische Konnotation. Wer denkt nicht sofort an Barack Obama und die Hoffnungen, die auf den ersten schwarzen US-Präsidenten projiziert wurden? Bigelows Film wirft also einen Schatten, der bis in die Gegenwart reicht – ihr Fazit fällt angesichts von Ferguson und Charlottesville unversöhnlich aus. „Detroit“ ist im Tonfall pessimistisch, was entscheidend auch damit zu tun, dass Bigelow die Ausschreitungen im Stil einer Kriegsreportage inszeniert.

„Detroit“ ist virtuos gefilmter Ausnahmezustand. Die agile Verité-Kamera von Barry Ackroyd – ein Veteran, der anstrengungslos eine Brücke zwischen dem humanistischen Kino Ken Loachs und der dokumentarischen Unmittelbarkeit eines Paul Greengrass schlägt – suggeriert ein permanentes Ins-Geschehen-Geworfen-Sein. Auch in den Momenten, in denen Zurückhaltung angebrachter wäre. William Goldenbergs fließende Montage bringt die Grenzen von Inszenierung und historischen Nachrichtenbildern ins Schwimmen. Auch der damalige Governeur George Romney, der die Nationalgarde nach Detroit beorderte, wird zu einem Protagonisten Bigelows.

Zustand zwischen Fieber- und Albtraum

Unbestätigte Berichte über Scharfschützen heizen die Spannungen zwischen den mehrheitlich weißen Polizisten und der schwarzen Bevölkerung an, sie gehen mit äußerster Brutalität gegen vermeintliche Plünderer vor. Bigelow filmt mit verstärkter Dringlichkeit, „Detroit“ gelingt in der ersten Dreiviertelstunde ein komplexes Sozialtableau: die Razzia in einer illegalen Bar, die Wut und Hoffnungslosigkeit in den Gesichtern der Menschen, Schilder mit der Aufschrift „Soul Brother“ in den Schaufenstern schwarzer Geschäfte.

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Als „eine Nacht der Halluzinationen“ beschreibt der Journalist John Hersey in seinem 1968 veröffentlichten Buch „The Algiers Motel Incident“ die Ereignisse, die Bigelows Film akribisch rekonstruiert. Ihre Inszenierung kommt diesem Zustand zwischen Fieber- und Albtraum beängstigend nah. Die vierjährige Tanya Blanding beobachtet vom Fenster aus den Einsatz der Nationalgarde. Als die Soldaten eine Bewegung hinter den Jalousien bemerken, eröffnen sie das Feuer. Noch bleibt das Blutvergießen im Off.

Die Situation entwickelt eine tödliche Eigendynamik

„Wir müssen nur die Nacht überleben.“ Dieser Satz fällt im Algiers Motel, in dem in den frühen Morgenstunden des 26. Juli 1967 drei junge Schwarze unter bis heute ungeklärten Umständen starben. „Detroit“ verdichtet das Geschehen an diesem zentralen Ort. Ein Protagonist nach dem anderen findet hier bei Einbruch der Dunkelheit Unterschlupf, über die Stadt ist eine Ausgangssperre verhängt. Larry Reed (Algee Smith) und Fred Temple (Jacob Latimore), Mitglieder der kurz darauf berühmt gewordenen Soulband The Dramatics, der Vietnamveteran Robert Greene (Anthony Mackie), die 18-jährigen Studentinnen Julie (Hannah Murray) und Karen (Kaitlyn Dever), die einzigen Weißen in dem als Drogenumschlagsplatz berüchtigten Partymotel. Der private Wachmann Melvin Dismukes (John Boyega) ist zum Schutz eines Geschäfts in der Nachbarschaft abgestellt, als Schüsse aus einem Fenster des Motels fallen (aus einer Schreckschusspistole).

Innerhalb weniger Minuten ist das Gebäude umstellt, der Polizist Krauss (Will Poulter) und zwei Kollegen prügeln die Gäste aus ihren Zimmern, versammeln sie im Flur. Krauss droht bereits eine Mordanklage, nachdem er in der Nacht zuvor einen verdächtigen Plünderer hinterrücks erschossen hat.

Schuldig oder nicht? Der Wachmann Melvin Dismukes (John Boyega).
Schuldig oder nicht? Der Wachmann Melvin Dismukes (John Boyega).

© Concorde

Im Algiers Motel kulminieren die Ereignisse in einer sehr langen, absichtsvoll quälenden Machtdemonstration der drei Polizisten. Krauss, dessen wahrer Name in „Detroit“ als einziger geändert wurde, ist auf alle Eventualitäten vorbereitet. Dem ersten Todesopfer schiebt er heimlich ein Messer unter, dann knöpft er sich die anderen Männer vor. Doch paradoxerweise verliert „Detroit“ genau dann seinen Fokus, als sich die Tragödie zuspitzt. Poulter spielt Krauss als ausgemachten Sadisten, der vorgibt, einen nach dem anderen im Nebenzimmer zu erschießen, um ein Geständnis zu erzwingen. Die Situation entwickelt eine tödliche Eigendynamik, der sich auch die Soldaten der Nationalgarde und der unbeteiligte Wachmann nicht entziehen können.

Keine Selbstermächtigung, nur weißer Terror

Dismukes, dessen Darsteller Boyega als schwarzer „Star Wars“-Stormtrooper bereits zur Pop-Ikone wurde, ist die einzige Figur, die aus dem Schwarz-Weiß-Schema fällt. Die Polizisten sind karikaturenhaft böse Rassisten, die Schwarzen wehrlose Opfer. Dieser Defätismus verweigert dem Film jeden Handlungsspielraum, er erzeugt allenfalls ein Klima von Unterdrückung und Angst. Wenn „Detroit“ als Unterstützung der Black-Lives-Matter-Bewegung gemeint ist, appelliert Bigelow an die falschen Gefühle. In keiner Szene geht es hier um Selbstermächtigung, nur um blanken weißen Terror – von Ackroyds fast subjektiver Kamera mit beklemmender Intensität eingefangen.

In Boyegas Gesicht steht das Dilemma eines Afroamerikaners geschrieben, der in einer weißen Gesellschaft mit repräsentativer Macht ausgestattet ist. „Detroit“ lässt offen, ob der Wachmann Opfer und Mittäter ist; der echte Dismukes wurde seinerzeit angeklagt. Boyega spielt ihn wie auf Autopilot, gelähmt angesichts der rassistischen Gewalt. Wenn er sich nach dem Freispruch der Polizisten vor dem Gericht auf der Straße übergibt, ist das die erste menschliche Regung in „Detroit“.

In 15 Berliner Kinos. OV: Cineplex Karli, Cinestar Potsdamer Platz, OmU: Delphi Lux, Eiszeit, Eva, Filmrauschpalast, Hackesche Höfe, Odeon, Colosseum

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