zum Hauptinhalt
Gedenkstein in Auschwitz.

© dpa

Katri Lipsons Brief an Europa: Meine europäische Unschuld endete in Auschwitz

Was macht einen europäischen Schriftsteller aus? Für die finnische Autorin Katri Lipson sind es die Autotouren durch das widersprüchliche Mosaik Europa in ihrer Kindheit. Sie führten sie von Capri bis nach Auschwitz.

Am 8. Oktober wird auf der Frankfurter Buchmesse der Literaturpreis der Europäischen Union verliehen. Die Jurys haben, zum sechsten Mal, Texte aus 13 Ländern gesichtet. Jedes Jahr zeichnet der EU-Literaturpreis aufstrebende Autoren aus. 2014 kommen die Preisträger aus Albanien, Bulgarien, Griechenland, Island, Lettland, Liechtenstein, Malta, Montenegro, Niederlande, Serbien, Tschechische Republik, Türkei und dem Vereinigten Königreich. In Kooperation mit der Frankfurter Buchmesse veröffentlicht der Tagesspiegel zu diesem Preis „Briefe an Europa“ von europäischen Autoren, die auch an einer sich an die Preisverleihung anschließenden Europa-Debatte teilnehmen werden. Der russische Schriftsteller Michail Schischkin machte den Anfang. Die Finnin Katri Lipson, geboren 1965, gewann diesen Preis im letzten Jahr. Finnland ist 2014 Gastland der Frankfurter Buchmesse.

Bin ich eine europäische Schriftstellerin? Die Frage klingt egozentrisch, ziemlich provokant zudem und lässt sich nicht beantworten, ohne anderen auf die kulturellen Zehen zu treten. Was jedoch mich angeht, so habe ich, wie in einem hoffnungslos öden und armselig geschriebenen Roman, keinerlei Ungewissheit, keine skandalträchtige Offenbarung oder intellektuelle Koketterie zu bieten – ungeachtet der Tatsache, dass Schriftsteller ihr ganzes literarisches Leben hindurch zweifellos mit dem ungelösten Mysterium der individuellen und kollektiven Identität ringen. Bin ich jetzt eine europäische Schriftstellerin? Meine Antwort lautet schlicht und einfach Ja.

Schriftstellerin bin ich immer gewesen, Europäerin auch. Europäische Schriftstellerin zu sein, folgt daraus offenbar nicht automatisch, doch sollte es weder wasserdichter Beweise noch schwergewichtiger Lebensläufe bedürfen, in denen Europäer-Sein und das Schreiben nach vorgegebenen Kriterien zusammengeführt werden, da es dabei nicht um eine Verhandlung vor Gericht, eine wissenschaftliche Dissertation oder eine Musterungskommission geht. Zu sein, was man ist, bedeutet die Auflistung von Niederlagen und Unzulänglichkeiten – hier geht es um die Löcher im Käse, um den Fuß, der eines schicksalträchtigen Abends ausglitt, eine Geschichte, die niemand erzählte; all diese Dinge, die selbst lebenslange Therapie weder begreifen noch überwinden kann.

Deshalb will ich, ein wenig genervt von der endlosen, formalingesäuerten Wortklauberei unserer Zeit, stattdessen ein Fenster öffnen und einen flüchtigen Blick auf eine Welt erlauben, der wir alle preisgegeben sind – der Welt der Kinder und der Träume.

Katri Lipson macht Urlaub im Süden

Während der Sommermonate in den 1970er und frühen 1980er Jahren, als die Menschheit noch nicht mit technischen Wunderdingen wie Navigationssystemen, Mobiltelefonen und dem Internet gesegnet war, verfrachteten meine Eltern ihre drei kleinen Kinder, einige Büchsen, Kleidung und ein Zelt in einen gelben Ford Escort und machten sich „auf nach Europa“. Die Regel für die Unterbringung war denkbar einfach: Scheint die Sonne, wird gecampt; wenn es regnet, gibt es ein billiges Dach über den Kopf, das uns trocken hält. Es regnete selten. Damals löste dich diese Art urtümlichen Reisens aus deinem häuslichen Sicherheitsnetz heraus und zwang dich, dich auf die Menschen in der physischen Wirklichkeit einzulassen. Wenn du ein Problem lösen oder auch nur an der nächsten Kreuzung richtig abbiegen wolltest, musstest du deine ganzen verbalen und nonverbalen Fertigkeiten zur Kommunikation aufbieten.

Für ein Kind war das ein nie endendes Abenteuer, bei dem man erstaunliche Dinge zu sehen bekam – die Alpen, mittelalterliche Burgen, Venedig, die Ruinen von Pompeji. Nach jenen frühen Reisen führte meine erste Detektivgeschichte („Miss Greiss and The Silent Mermaid“) von den Niederlanden bis in die Blaue Grotte auf Capri; die Sonne schien, die Leute lächelten und das Rätsel wurde gelöst.

Hinter dem Eisernen Vorhang, nach Auschwitz

Im Sommer 1976 waren meine Eltern für den Schritt aus der Wohlfühlzone bereit. Vor ihrer Neugier und ihrem Mut ziehe ich den Hut. Ich war elf Jahre alt, meine Schwester neun und mein Bruder sechs. Mein Vater fuhr mit uns hinter den Eisernen Vorhang, und nur wenige Wochen später endete meine europäische Unschuld in Auschwitz. Die ganze restliche Reise über schrak ich jedes Mal zusammen, wenn ich ein Straßenschild sah, das auf eine historische Stätte hinwies – ein umgedrehter roter Stahlhelm auf weißem Grund und eine rote Flamme über dem Helm.

Im Geschichtsunterricht in der Schule waren wir noch nicht bis in die Moderne gekommen; wir hatten gerade mal mit dem alten Ägypten angefangen. Als ich mich wieder unter meinen Klassenkameradinnen in Finnland befand, empfand ich etwas, das sehr kompliziert und so absurd war, dass ich es nicht beschreiben konnte. Es fühlte sich an, als hätte ich die Schrecken des Zweiten Weltkrieges entdeckt und niemand sonst wüsste um sie. Eines ist sicher: Ohne diese Autotouren durch das Mosaik Europa, prädigital und mit Widersprüchen durchsetzt, würde ich niemals so schreiben, wie ich es tue.

Der Traum von einer Welt ohne Krieg.

Hinein ins Unbekannte. Die Blaue Grotte von Capri inspirierte die junge finnische Autorin.
Hinein ins Unbekannte. Die Blaue Grotte von Capri inspirierte die junge finnische Autorin.

© Imago

Und dann kam die Nacht, in der ich einen Traum hatte, einen Traum, der mich seither nie losgelassen hat. Ich befand mich in einer großen Stadt, die mir sehr vertraut vorkam, aber keinen Namen hatte. Die Stadt war von rötlichem Braun, der Farbe eines alten verblichenen Fotos. Es war eine Großstadt mit alten, mit roten Ziegeln gedeckten Häusern, breiten Prachtstraßen und seltsamen, großen, leeren Sandkästen, mit quietschenden Schaukeln und Maschendrahtzäunen.

Alles war in das rostrote Licht des Sonnenuntergangs getaucht. Es wirkte still, träge und besänftigend. Es waren kaum Leute auf den Straßen, doch betrat man ein riesiges Gebäude mit hoher Decke, waren sie plötzlich alle da. Es handelte sich um einen gewaltigen Raum mit matten gelben Lampen und dunstiger Luft: Er war Bibliothek, Café, Klassenzimmer, Kathedrale, das Foyer eines Konzerthauses oder Hotels – so vieles gleichzeitig und voller Leute, die an Tischen saßen, herumgingen, standen, redeten, lachten, debattierten, gestikulierten, tranken, aßen, lasen, mit klopfendem Herzen, gedankenverloren.

Reise in die Stadt der Träume, nie zerstört, nie traumatisiert

Die Stadt war offensichtlich eine Mischung aus allen europäischen Großstädten, die im Innersten diesen pulsierenden, vibrierenden, gemeinsamen Raum verbarg, eine Art ideales Hybrid aus den gesamten materiellen und immateriellen Eindrücken aus Vergangenheit und Gegenwart, denen ich auf meinen Reisen begegnet war und aus jeder kulturellen Erfahrung auf diesem Kontinent in mich aufgenommen hatte. Sie war auf der Landkarte nicht festzumachen, doch versuchte ich, sie zumindest zeitlich einzuordnen. Sie sah weder alt noch besonders jung aus. Ich musste aufgeben. Sie war einfach zeitlos.

Es sollte viele, viele Jahre mit Reisen, Musik und unendlich vielen Büchern dauern, bis sich diese Stadt der Träume auf dem Zeitstrahl unserer Geschichte verankerte. Heute weiß ich, dass es eine europäische Großstadt in den 1930er Jahren gewesen sein muss, doch eine, wie wir sie nie erlebt haben – ohne einen Ersten Weltkrieg in der Vergangenheit und ohne einen heraufziehenden Zweiten Weltkrieg –, eine Großstadt, in der ein Leben pulsierte, das niemals für immer zerstört und traumatisiert worden war und nie sein würde. Welch unerträglich schöne Vision.

Die Literatur, Gedächtnis der Menschheit

Bei erneutem Nachdenken aber, bei dem, traumtypisch, die gleichzeitig enthaltenen Gegensätze offenbar werden – war dies, in den tiefsten Schichten meines Unterbewusstseins, nun ein Ausdruck der Hoffnung oder der Hoffnungslosigkeit? Sind wir lediglich ein Spiegelkabinett, eine passive Oberfläche für die Optik von Hass und Angst oder nicht? Stimmt es denn nicht, dass nichts, keine Ideologie, Kunst oder Wissenschaft, in der Lage war, diese Todesmaschine aufzuhalten, die wir mit unseren eigenen Händen gebaut hatten?

Wenn die Literatur das Gedächtnis der Menschheit ist, wie können wir dann so ein schlechtes Gedächtnis haben? Oder haben wir nur aufgehört zu lesen?

Übersetzung aus dem Englischen von Thomas Brückner.

Katri Lipson

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false