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Kultur: Kein Heimweh nach Mutter Helvetia

Der schweigsame Schweizer zählt zu den wichtigsten Künstlern unseres Jahrhunderts.Das Werk Alberto Giacomettis (1901-1966) steht deshalb auch im Zentrum der zahlreichen Ausstellungen eidgenössischer Kunst, die in Frankfurt zum diesjährigen Buchmesse-Gastland Schweiz stattfinden.

Der schweigsame Schweizer zählt zu den wichtigsten Künstlern unseres Jahrhunderts.Das Werk Alberto Giacomettis (1901-1966) steht deshalb auch im Zentrum der zahlreichen Ausstellungen eidgenössischer Kunst, die in Frankfurt zum diesjährigen Buchmesse-Gastland Schweiz stattfinden.Eine umfangreiche Giacometti-Retrospektive mit rund 100 Skulpturen, Gemälden, Zeichnungen und Druckgraphiken ist derzeit in der Schirn-Kunsthalle zu sehen.Organisiert wurde sie von dem Schweizer Christoph Vitali, der früher die Schirn leitete, nun dem Münchner Haus der Kunst vorsteht und verantwortlich für das kulturelle Programm des Schweiz-Schwerpunktes ist.

Schon vor dem Bruch mit den Surrealisten 1935 erprobte Giacometti die Darstellung der menschlichen Figur.Bald schrumpfen seine Bronzeskulpturen auf Streichholzgröße, wie etwa die "Kleine Büste auf einem Doppelsockel" (1940/41) zeigt.Ende der vierziger Jahre schießen sie dann in zwei Meter Höhe zu fadendünnen, scheinbar körperlosen Figuren.Giacometti läßt Masse und Volumen verschwinden.Regen Kontakt mit Giacometti und entsprechend starken Einfluß auf ihn hatten Schriftsteller und Philosophen wie Sartre, Beckett, Genet, Breton, Aragon und Michel Leiris.Die Frankfurter Schau legt auf diese Beziehungen ihr Augenmerk und stellt Giacomettis weniger bekannte Illustrationen zu Büchern der Freunde sowie seine Lithographien vor, die sich mit den Literaten auseinandersetzen.

Am eindrucksvollsten ist wohl der über 50 Blätter umfassende Radierungszyklus "Lebende Asche, unbenannt" (1957-60), der entstand, als Michel Leiris nach einem vereitelten Suizid 1957 lange krank war.Giacometti ergriff die Chance und porträtierte den gleichaltrigen Freund, zeigt seinen nur langsam wiederkehrenden Lebensgeist.Der Zyklus beginnt mit einem undurchdringlichen, stechenden Blick des Literaten, den man so schnell nicht wieder vergißt.Die Augen bestehen aus endlos vielen Kreisen, sie scheinen das eigentliche Lebenszentrum des Porträtierten zu sein.Anschließend schwenkt der Blick durch das Zimmer, hält sich an einigen Möbeln fest, geht zum Fenster, zur Decke und zeigt zwischendurch den zu Bett liegenden, hochwangigen, fast todesstarren Leiris.Am Ende steht der Literat wieder im Zimmer, aber er weicht mit dem Blick aus, läßt sich nur im Profil festhalten.

Abgerundet wird die übersichtliche und in helles Licht getauchte Schau durch etwa 60 charakteristische Schwarzweißfotos von Ernst Scheidegger, die den Künstler und sein Werk, aber auch den Menschen Giacometti und seinen Alltag festhalten.Giacometti konnte sich und sein Wirken im Atelier geschickt in Szene setzen.Die hieratisch dastehenden Skulpturen wirken dadurch noch geheimnisvoller, Giacomettis frei schwebender Zeichenstrich scheint so noch fragiler.

Doch die Schirn schaut nicht nur zurück auf einen Schweizer Einzelgänger, sondern wagt auch den Blick nach vorn.Noch 1980 forderten die Züricher Punker "Nieder mit den Alpen - freie Sicht aufs Mittelmeer!" Längst sind die Hürden in den Köpfen der jungen Schweizer gefallen, wie der Ausstellungstitel "Freie Sicht aufs Mittelmeer" nahelegt.Rund 70 Künstler zeigen allerlei Freches und Spielerisches.Daniele Buettis umherrollende Plastikkugel etwa führt ein Foto mit einer nackten Schönheit im Schlepptau; mehrfach vertreten ist auch Shooting Star Pipilotti Rist mit bekannten Videos.Stille Positionen wie Silvia Bächlis Zeichnungen sind dagegen eher die Ausnahme.

Die Schau macht deutlich, daß die Schweizer mit ihrer Kunst international nicht hinterm Berg halten müssen.Und Kunstlandschaften gelten heute nicht mehr, die Verständigung funktioniert rund um den Globus."Hoher Himmel - Enges Tal", das provozierend gemeinte Schweizer Buchmesse-Motto, ist also nur ein gern gepflegter Mythos.Längst muß man nicht mehr auf die Berge steigen, um den Weitblick zu suchen.Das gilt nur für Patrioten, die Heimweh nach Mutter Helvetia haben.

Die Urmutter aller Schweizer taucht auch bei Henry von der Weids "Lesemaschine" auf, die Hans-Peter Litscher nachgebaut hat und während der Buchmesse in der Halle 7 zeigt.Der inzwischen verstorbene Henry von der Weid bastelte von den fünfziger bis in die neunziger Jahre an seiner Maschine, die alle Schweizer Bücher zum Lesen bringt.Dieses höchst geheimnisvolle Gerät assoziiert Texte mit Bildern und Bilder mit Texten, von der Zwingli-Bibel bis zu Eugen Gomringers Gedicht "Schwiizer".Die Maschine bringt nicht nur Bücher zum Sprechen, sondern liest auch zwischen den Zeilen.Leider ist sie zu groß, um sie sich ins Wohnzimmer zu stellen oder gar mit ins Bett zu nehmen.

Frankfurt/Main, Schirn Kunsthalle, Giacometti bis 3.Januar, Werk-Katalog 49 Mark, Foto-Katalog 39 Mark; Junge Schweizer bis 22.November, Katalog 49 Mark.

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