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Kultur: Kein Kontinent der Schweine

Vielleicht sollten Schriftstellerkongresse immer in der Adventszeit stattfinden, wenn die großen Formeln wochenlang wie vertraut klingen.Zumal Schriftstellerkongressen stets eine tiefe Melancholie eigen ist, seit den Literaten Wahrheit und Moral von Fachleuten anderer Provenienz streitig gemacht werden und die Literatur nicht mehr gesellschaftliches Leitmedium ist.

Vielleicht sollten Schriftstellerkongresse immer in der Adventszeit stattfinden, wenn die großen Formeln wochenlang wie vertraut klingen.Zumal Schriftstellerkongressen stets eine tiefe Melancholie eigen ist, seit den Literaten Wahrheit und Moral von Fachleuten anderer Provenienz streitig gemacht werden und die Literatur nicht mehr gesellschaftliches Leitmedium ist.Da ist vorweihnachtlicher Trost durchaus angebracht.

In Berlin, wo am Wochenende ein internationaler Schriftstellerkongreß zum Thema "Europa - Wunschtraum oder Alptraum?" stattfand, verdichtete sich manchmal der Eindruck einer einst angesehenen Familie, die sich ebenso gern von ihrer großen Vergangenheit wie von den folgenden furchtbaren Schicksalsschlägen erzählt.Michael Naumann, designierter Staatsminister für Kultur, hatte den familiären Ton bereits in seiner Eröffnungsrede vorgegeben; immer wieder sprach er von "uns" und "wir", wo "Ihr" oder "Sie" angemessen gewesen wären.Solch gute Gesellschaft hat ihre Gefahren: zum Beispiel müssen deren Weihnachtsfeste unerbittlich friedlich verlaufen.

Die zum Treffen angereisten Gäste waren durchweg hochkarätig.Mario Vargas Llosa, Richard Sennett, Pierre Mertens, Harry Mulisch und viele kaum weniger Bekannte waren in das Haus der Kulturen der Welt gekommen - allenfalls bekennende Enzyklopädisten bewahrten angesichts der diversen Foren und Podiumsdiskussionen mit 30 Intellektuellen aus drei Kontinenten den Überblick.Nur englische Schriftsteller fehlten, obwohl es doch um Europa ging.

Um die Magie der Bedeutung versprechenden Zahl war es Hans Christoph Buch, Peter Schneider, Dieter Esche, Richard Herzinger und Bernd M.Scherer zumindest nicht vorrangig zu tun.Einige der Organisatoren hatten bereits 1988 einen ähnlichen Internationalen Schriftstellerkongreß ausgerichtet und, den realen Ereignissen vorausgreifend, Freizügigkeit innerhalb Europas gefordert.Zehn Jahre später nun wollten sie "Geburtshelfer einer Europa-Debatte" sein, die in Deutschland - anders als in Frankreich oder Großbritannien - über Währungsfragen hinaus kaum nochstattfindet.

So ganz wollte man aber hinter den Nachbarn nicht zurückstehen und machte sich selbst mit dem Thema der sonntäglichen Abschlußdiskussion, "Glanz und Elend der Intellektuellen", ein besonderes Geschenk.In einträchtiger Demut demonstrierten die Teilnehmer vom Podium herab Bescheidenheit: "Keine Macht für niemand!" rief György Dalos.Immerhin stützten der Ungar, die Ex-Jugoslawin Slavenka Drakulic und Monika Maron sich auf eigene bittere Erfahrungen mit der Macht und den Staatsintellektuellen.Wenn allerdings der Moderator Peter Schneider von seinen nach 1989 überwundenen Irrtümern sprach, dann sollte die ausgestellte geistige Beweglichkeit wohl die frappierende Nähe zum Status quo bemänteln - gemeinhin der Tod des unabhängigen Intellektuellen.Angesichts solch friedlicher Innerlichkeit hielt sich das fühlbar verärgerte Publikum da lieber an den streitbaren André Glucksmann.Wiederholt und energisch hatte er zuvor die tatkräftige Solidarität Europas mit Menschen in Jugoslawien oder Ruanda eingeklagt.

Das Schriftstellertreffen fand so ein würdiges Ende.Konsequent war die Neigung zu wohlmeinenden Formeln durchgehalten worden.Am höchsten stand ein Europa der Menschenrechte im Kurs.Außerdem sollten die europäische Identität und seine politische Gestalt nichts und niemanden ausgrenzen; Claus Leggewies scherzhafte Forderung nach den "Vereinigten Staaten von Europa und den USA" machte alsbald die Runde.Europa: ein Weihnachtsbaum mit vielen bunten Kerzen.

Gegen solche Spielereien, die niemanden ernsthaft forderten, gab es während des dreitägigen Tagungsmarathons in fünf Diskussionsforen wenig Einspruch.Routiniert wurde über die deutsch-französischen Beziehungen, die Angst vor der Amerikanisierung, über Europas Osten, die Rolle der Literatur und das Verhältnis zur nichteuropäischen Welt diskutiert.

Sieht man von den beiden letzten Themen ab, die den Organisatoren und dem Haus der Kulturen der Welt am Herzen liegen mußten, dann standen erstaunlicherweise die klassischen politischen Themen Westeuropas im Mittelpunkt des Schriftstellertreffens.Offenbar wollten die Veranstalter den EU-Politikern auf eigenem Feld Konkurrenz machen.Für die Forderung von Pierre Bourdieu, an einem sozialen, gegen den grassierenden Neoliberalismus gerichtetes Europa mitzubauen, hatte man sich nicht begeistern können.Ob der französische Soziologe deshalb abgesagt hatte?

Immerhin hätte das Schriftstellertreffen Keimzelle des von Bourdieu angeregten intellektuellen Europa-Gremiums werden können.Hans Christoph Buch drängte gleich scherzend an die Fleischtöpfe: Brüssel möge doch regelmäßige Konsultationen zwischen deutschen und französischen Intellektuellen bezahlen.Da sich die Autoren bereits sehr kompatibel zu den Eurokraten aufführten, dürften ihre Chancen auf einen positiven Bescheid groß sein.Man sprach freundlich aneinander vorbei, gelegentlich auch miteinander, was den Wissenschaftlern und Publizisten deutlich leichter fiel als den Schriftstellern.Tacheles aber wurde nur zweimal geredet.Gleich zu Beginn schoß André Glucksmann wie ein Jagdflieger auf sein Standardthema zu: das Versagen Europas im jugoslawischen Krieg.Das Europa der Rinder und Schweine habe keinen Begriff mehr vom Opfer.Der französische Philosoph empfahl sich damit nachdrücklich als erster General einer künftigen europäischen Force de frappe.Buch nahm es zustimmend zur Kenntnis, die übrigen Diskutanten gar nicht.

Da mußten sich die Novizen nicht anstrengen.Carmen Banciu, Aris Fioretos und Perikles Monioudis lasen über Katzen, Tintenfische und Brillen, Ingo Schulze machte einen Witz über die Unentbehrlichkeit der Literatur.Im übrigen waren unter den vorgetragenen Texten durchaus brillante Beiträge, nicht wenige galten auch Europa.Nur wollten die Ebenen, die Begriffe oft nicht zueinander passen, waren die Moderatoren überfordert.Richard Herzinger etwa verlas zu Beginn des Forums über die Amerikanisierung eine knapp zehnminütige Suada komplexer Überlegungen ausschließlich in Frageform.Als er mit einem trockenen "Fragen über Fragen" die Diskussion eröffnete, war die Heiterkeit groß.

Und die Diskutanten kamen auch ohne ihn zurecht.Claus Koch prophezeite einen heftigen Antiamerikanismus in Europa und warnte vor der totalitarismusgefährdeten Hegemonie der USA.Charismatisch wehrte der Peruaner Mario Vargas Llosa jede Kritik an den USA als Nationalismus und Haß ab,und der amerikanische Soziologe Richard Sennett relativierte souverän Glucksmanns Bemerkungen über "missionarischen Kulturimperialisten" der USA: diese wollten niemanden missionieren, denn für sie gebe es ohnehin nichts anderes als die amerikanischen Verhältnisse.

Solche Sternstunden waren selten.Immerhin erschienen den Zuhörern manchmal veritable Traumbilder.An der Diskussion über Europas "wilden Osten" schienen durch ihre Nähe oder Ferne zur EU gezeichnete Nationalcharaktere teilzunehmen: Der Ungar (György Konrád) setzte aufs Sichdurchwursteln Osteuropas, der gewitzte, selbstbewußte Pole (Adam Krzeminski) blickte herab auf den niedergeschlagenen Russen (Mikhail Ryklin), der neutrale Schwede (Richard Swartz) ergriff Partei für die osteuropäische Peripherie, und der geknickte Ostdeutsche (Jens Reich) trauerte um die verlorene osteuropäische Lebenswelt.

Für Ost- und Mitteleuropäer mochte Europa ein brennendes Thema sein - die Zuhörer setzten andere Schwerpunkte.Als der Deutschtürke Feridun Zaimoglu Bürgerrechte für die Immigranten in der Bundesrepublik einklagte, antwortete FAZ-Redakteur Konrad Adam forsch: keine Bürgerrechte für jene, die dreist Plakate mit Kalaschnikows in einer ihm unverständlichen Sprache kleben! Noch einmal waren die wohlmeinenden Formeln weggewischt.Doch statt die Gäste aus Indien, Algerien und Mexiko nach ihrer Meinung zu befragen, stürmten empörte Zuhörer die Mikrofone.Europa mochte Tagungsthema sein, doch Deutschland erregte die Gemüter.

"Europa - Wunschtraum oder Alptraum?" Laut Sigmund Freud ist beides eine Wunscherfüllung.Nur: Wie heißt der Wunsch? Das ersehnte Europa der Menschenrechte kann, immerhin das wurde deutlich, innenpolitisch defensiv wie bei Konrad Adam daherkommen und/oder außenpolitisch offensiv wie bei André Glucksmann.Deutlichere Worte hätten die Stimmung gestört.Vielleicht wäre Europa und seinen Intellektuellen künftig mit kleineren, weniger zeremoniösen Familientreffen besser gedient.

JÖRG PLATH

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