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Kultur: Kein Wort, das nicht durch die politische Vergangenheit verdorben wäre: J. M. Coetzee sucht nach dem Stand der Unschuld

Für die Wahrheit in Südafrika sei die englische Sprache ungeeignet, heißt es in J.M.

Für die Wahrheit in Südafrika sei die englische Sprache ungeeignet, heißt es in J.M. Coetzees neuestem Roman "Schande". Die Geschichte von Südafrika lasse sich eher in Xhosa und Sotho, den Sprachen der schwarzen Südafrikaner, erzählen. Coetzee, dessen Muttersprache das Afrikaans ist, arbeitet als Professor für Literatur an der Universität Kapstadt und hat seine acht Romane in Englisch geschrieben. 1999 erhielt er für "Schande" den Booker-Preis, die renommierteste Auszeichnung für Autoren des Commonwealth.

Das Buch beginnt wie ein Campus-Roman. Mit einem Protagonisten jener Generation, die noch die Tyrannei der Apartheid erlebt hat, einem Professor, dessen Ängste vor den Symptomen des Alterns sich mit jenen der Nachapartheid mischen. Die Lethargie seiner Studenten verbittert ihn ebenso wie das Versiegen seiner erotischen Ausstrahlung und die gesellschaftliche Vorstellung, dass sexuelles Begehren bei einem Mann über 50 eine "Zumutung" sei.

Als er von einer Studentin wegen sexuellen Missbrauchs angezeigt wird, gesteht er zwar vor dem Untersuchungs-Ausschuss, verweigert aber die Reue: Als "Diener des Eros" habe er das "Recht zu begehren". Und wird zu seiner Schande entlassen.

Die Wahrheit ist in diesem Roman also zunächst männlich und weiß. Bis Petrus auftaucht. David Lurie, der entlassene Professor, begegnet ihm bei seiner 25-jährigen Tochter Lucy, einer Aussteigerin, die allein und unter widrigen Umständen im Hinterland eine Farm mit Hundepension betreibt. Hier gedenkt sich Lurie zu regenerieren, um mit einer Oper über "Byron in Italien" rehabilitiert in die Gesellschaft zurückzukehren. Die wenigen Weißen in diesem Landstrich um Salem, den Coetzee schon mehrfach zum magischen Schauplatz seiner Romane gemacht hat, leben bewaffnet und hinter hohen Gittern - wer weiß, wie lange sie überhaupt noch bleiben.

Petrus, ein schwarzer Afrikaner und Hoffnungsträger der neuen Generation, ist Lucys Nachbar und hat es anscheinend auf ihren Besitz abgesehen. Er ist "voller Geduld und Tatkraft, einer, der sich nicht unterkriegen lässt". Eigentlich sollte er die wahre Hauptperson sein, legt der Roman nahe, so erzählenswert ist seine Geschichte. Doch nicht in Englisch, da würde sie "arthritisch wirken, längst vergangen".

Um die Sprache von den Spuren von Un- terdrückung und Schuld zu befreien, so Lurie, muss man "wohl ganz von vorn mit dem ABC anfangen", bevor sie wieder zur Wahrheitsfindung taugt. Wie im Italien oder Deutschland der Nachkriegszeit sollte die Sprache der Literatur erst "gereinigt wieder in Umlauf kommen, bevor ihr zu trauen ist."

Die Kritik an der Sprache der Kolonialherren, die Coetzee, Jahrgang 1940, seinem Protagonisten in den Mund legt, ist für ihn selbst Programm. Sein Stil ist klar, haarscharf und meisterhaft sparsam. In einem Buch über das Leben nach der Apartheid taucht das Adjektiv "schwarz" nur ein einziges Mal auf. Mit großer Sensibilität und sogartigem Erzählfluss rührt er an die Wunden, die die Apartheid geschlagen hat und umschreibt buchstäblich das Minenfeld der Klischees und verbrauchten Worte. Die Übersetzung folgt ihm kongenial.

Der Hass der Geschichte

Ein sprachlicher Kahlschlag allein reicht aber nicht aus für den Neuanfang. Erst muss ein Mensch aus dem Zentrum seiner Biografie an den äußersten Rand der Geschichte rutschen und mit ihm gleichsam der gesamte europäische Wertefundus. Bei einem brutalen Überfall von drei schwarzen "Vergewaltigern" bekommen Vater und Tochter den tödlichen Hass der Geschichte zu spüren. Und obwohl beide den Überfall völlig unterschiedlich begreifen, reagieren sie mit den Gefühlen tiefer Schuld.

Lucy, die bei dem Überfall schwanger wird, will das Kind behalten und sich in einer archaischen Rückwende "ohne Rechte, ohne Würde" dem Schutz von Petrus unterstellen. Der Verzicht auf alles ist der "Preis bleiben zu dürfen". Während Lucy durch Unterwerfung individuell eine kollektive Schuld zu begleichen sucht und die "ausgleichende Ungerechtigkeit" akzeptiert, stürzt Lurie von einer Erniedrigung in die nächste. Erst als er, in einer Umkehrung der geschichtlichen Verhältnisse, vom Ästheten und Campus-Casanova zum "Hunde-Mann" geworden ist, der Tierkadaver entsorgt, kann er etwas wie Gnade empfinden.

Mit nichts von vorne beginnen, das ist die Wahrheit über den Neuanfang. Sie liest sich wie eine nachchristliche Schuld-und Sühne-Parabel mit einer kühnen Überspitzung: Nicht der Versuch, zu werden wie die Kinder, versetzt einen in den Zustand der Gnade, sondern wie die Hunde zu werden. Auf den Hund kommen, auf den Stand der unschuldigen Kreatur abstürzen, heißt hier auch Erlösung.

Dies ist die radikalste Abrechnung mit dem System der Apartheid im Gewand eines Vorfalls, wie er tagtäglich in Südafrika die Medien füllt.J.M. Coetzee: Schande. Roman Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. S. Fischer, Frankfurt am Main 2000. 285 Seiten, 38 DM.

Christiana Engelmann

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