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AKW? Nee. Kenzaburo Oe als Demonstrant in Tokio, März 2014.

© Kimimasa Mayama/dpa

Kenzaburo Oe wird 80: Nicht zu viel Verzweiflung, nicht zu viel Hoffnung

Der japanische Literaturnobelpreisträger Kenzaburo Oe wird 80 Jahre alt und wirft in einem autobiografischen Buch Licht auf die Geschichte seiner Familie - und ganz besonders auf seinen schwer behinderten Sohn, den Komponisten Hikari Oe.

Von Gregor Dotzauer

Mit fast 60 Jahren, kurz vor der Zuerkennung des Nobelpreises im Oktober 1994, wollte er vom Romaneschreiben eigentlich nichts mehr wissen. In einer Fernsehdokumentation über seine Familie erklärte Kenzaburo Oe, er wolle künftig neue Formen entwickeln. Sein schwer behinderter Sohn, 1963 mit einer Gehirnhernie zur Welt gekommen und nur eingeschränkt in der Lage, sich verständlich zu machen, habe als Komponist eine eigene Sprache gefunden. Hikari, dessen zweite CD gerade erschienen war, komme nun ohne seine Stimme aus. Nicht nur Oes bekanntester Roman „Eine persönliche Erfahrung“ (1964), der noch von Hass und Selbsthass eines Vaters angesichts eines missgebildeten Neugeborenen erzählt, steht dafür: Ein ganzer, Autobiografisches und Fiktionales vermengender Komplex seines Werks gilt dem schwierigen Glück, sich für das Leben mit dem pflegebedürftigen Sohn entschieden zu haben, ja ihn mit einer waghalsigen Operation überhaupt gerettet zu haben.

Schon die Stockholmer Jury verhinderte, dass Oe, der sich zu jener Zeit gerne tagelangen Spinoza-Lektüren hingab, der Rückzug gelang. Als er 1995 unter dem Titel „Der atemlose Stern“ den letzten Teil seiner verschiedenste Strömungen von Christentum, jüdischem Messianismus und Esoterik zusammenführenden Religionstrilogie „Grüner Baum in Flammen“ veröffentlichte, durfte er der Welt weniger denn je entsagen: ein rastlos Reisender, der 1999 auch in Berlin als Samuel-Fischer-Gastprofessor der FU Station machte.

Mit 70 Jahren war er dabei, eine weitere Trilogie abzuschließen. Was mit „Tagame Tokio–Berlin“ begonnen hatte, einem Roman, der in Gestalt von Kogito Choko, einem Berliner Gastprofessor mit behindertem Sohn, ein neues Alter Ego entwarf, das den Gründen für den Selbstmord eines Filmregisseurs nachspürt, in dem Oes Schwager Juzo Itami porträtiert wird, sollte mit „Sayonara, meine Bücher“ letzte Worte über die Qualen eines alternden Schriftstellers enthalten.

Nun, zu seinem 80. Geburtstag am heutigen Samstag, scheint er von dem Gewerbe, dem er entfliehen wollte, noch immer nicht Abschied genommen zu haben. Erst vor einem guten Jahr erschien in Japan unter dem Titel „Bannen Yoshikishu“ ein sechster Teil der Kogito-Serie, von der bisher nur eine englische Übersetzung – „In Late Style“ – existiert. Der Titel nimmt Edward Saids letzte Reflexionen über das Spätwerk von Künstlern auf. Thematisch nimmt sich Oe der dreifachen Katastrophe an, die Japan heimsuchte, als im März 2011 ein Erdbeben, ein Tsunami und die Havarie des Atomkraftwerks in Fukushima das Selbstverständnis der Nation in einem Maße erschütterten, wie es zuletzt nur Hiroshima und Nagasaki getan hatten – ein zweites Lebensthema von Oe.

Am 31. Januar 1935 auf Shikoku, der kleinsten der vier japanischen Hauptinseln geboren, sah er sich stets als Bewohner von Peripherien. Auch sein Studium der französischen und englischen Literatur in Tokio betrachtete er als stillen Protest gegen die offizielle Kultur. In T. S. Eliots Kampf von Weltenchaos und spiritueller Ordnung erkannte er einen ihm nahen dichterischen Impetus, in Thomas Manns vielgliedrigen Satzkonstruktionen einen Höhepunkt literarischer Raffinesse und in Jean-Paul Sartre ein Vorbild in Sachen moralisches Engagement. Ein intellektuelles Dreieck, in dem sich Oes ganzer Ehrgeiz, seine humanistische Kraft und seine mit wachsendem Alter zunehmenden Verstiegenheiten spiegeln.

Der frühe Oe, der als 23-Jähriger mit seiner Erzählung „Der Fang“ über die letzten Weltkriegstage in einem japanischen Dorf sofort die angesehenste Auszeichnung des Landes erhielt, den Akutagawa-Preis, fühlte sich noch einer oft sexuell aufgeladenen Ästhetik des Hässlichen verpflichtet: Die Helden seiner Erzählungen töteten Hunde oder hoben Leichen in Alkohol-Bassins um. Dieser Zug verwandelte sich zusehends in einen Sinn für die literarische Groteske, wie er sie bei François Rabelais bewundert oder bei Grimmelshausen, dem sich auch sein Freund Günter Grass verwandt fühlt. 1995 wurde der Briefwechsel der beiden veröffentlicht.

Zu Oes Geburtstag erscheint nun ein rein autobiografisches Buch auf Deutsch, das zwei im Original 1995 und 1996 erschienene Bände bündelt. „Licht scheint auf mein Dach“ (aus dem Japanischen von Nora Bierichm, S. Fischer Verlag, 206 Seiten, 19,99 €) erzählt „Die Geschichte meiner Familie“ und handelt doch vor allem von seinem Sohn und dessen Aufblühen in der Musik. Hikaris Klavierkompositionen, zu denen sich manchmal eine Flöte gesellt, sind nach handwerklichen Maßstäben dilettantisch, nach ästhetischen naiv – von ihren Interpreten ernst genommen, ungeachtet kleiner inhaltlicher Wiederholungen, aber auch von einer anrührenden Unschuld, die den Vater zu einer seltenen Klarheit, Durchsichtigkeit und Lauterkeit des Ton angeregt haben, deren Charme die gezeichneten Familienszenen seiner Frau Yukari nicht annähernd erreichen.

Das Buch sammelt Lebensmomente und porträtiert in lockerer Folge Menschen, die für Oe eine Rolle gespielt haben, darunter besonders eindringlich Doktor Moriyasu, der Familienarzt mit dem „rechtschaffenen Humor“. Zugleich denkt es über das Verhältnis zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen nach – nicht nur als Abwägung dessen, was sich ohne Exhibitionismus und ohne das Schüren voyeuristischer Bedürfnisse preisgeben lässt, sondern als Probe darauf, was literarisch den prägenden persönlichen Erfahrungen standhalten muss. Eine Erinnerung gilt auch Oes Französischprofessor Kazuo Watanabe, der den Humanismus der Renaissance einmal mit den Worten charakterisierte: „Nicht zu viel Verzweiflung, nicht zu viel Hoffnung.“ Kürzer lässt sich Kenzaburo Oes Blick auf die Welt nicht zusammenfassen.

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