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Kultur: Kicken und kullern

Frederik Hanssen über das Kinowunder von Essen Es gibt das Buch zum Film, den Roman zur TVSerie, ja seit Elton Johns „Aida“ sogar das Musical zur Oper. Aber das Kino zum Film?

Frederik Hanssen über das Kinowunder von Essen

Es gibt das Buch zum Film, den Roman zur TVSerie, ja seit Elton Johns „Aida“ sogar das Musical zur Oper. Aber das Kino zum Film? So etwas ist bislang wohl noch nicht dagewesen – bis vor zwei Wochen in der Essener „Lichtburg“ Sönke Wortmanns „Wunder von Bern“ startete. Der traditionsreiche Filmpalast scheint extra für das Fußball-Epos gebaut zu sein, er bietet das perfekte Ambiente für die komödiantisch-pathetische Geschichte vom „Wir sind wieder wer“. 17000 Menschen haben hier in den ersten 14 Tagen das 3:2 gegen Ungarn noch einmal miterlebt. Das ist Deutschlandrekord.

Noch mehr als über diesen nationalen Erfolg dürften sich die „Lichtburg“-Betreiber allerdings über einen Punktgewinn im Lokalderby freuen: Ins örtliche Cinemaxx, das Wortmanns Film natürlich ebenfalls im Programm hat, strömten in derselben Zeit nämlich nur 10000 Zuschauer. Und das, obwohl das Essener Kinocenter eigens für das „Wunder von Bern“ einen Senioren-Tarif zum Kampfpreis von 4,50 Euro erfunden hat. Gegen den Authentizitätsbonus der „Lichtburg“ kommt in der Heimatstadt des Fußballhelden Helmut Rahn eben keiner an.

Für das vor 75 Jahren eröffnete Lichtspieltheater in der Innenstadt ist Wortmanns Kickerdrama ein Glücksfall: Denn es ist nicht nur einer der schönsten erhaltenen Filmpaläste in Deutschland, sondern mit seinen 1250 Plätzen auch der größte Kinosaal des Landes. Nach langen Jahren des Niedergangs hat es eine Handvoll Cineasten gewagt, das Haus 1998 auf eigenes Risiko zu übernehmen, im März wurde die „Lichtburg“ nach liebevoller Renovierung im alten Glanz wiedereröffnet. Ihren Traum vom anspruchsvollen Programmkino mussten die Betreiber freilich weitgehend begraben.

Um den Riesensaal vollzubekommen, liefen bislang auch hier Hollywood-Kassenfüller wie etwa „Bad Boys II“. Bis das große „Wunder von Bern“ das kleine Essener Kinowunder vollbrachte: zunächst mit der Prominenten-Premiere in Anwesenheit von Bundeskanzler Gerhard Schröder, Innenminister Otto Schily und den echten Recken von Bern, dann mit dem sensationellen Publikumsansturm. Seitdem ziehen Abend für Abend ganze Familien zur „Lichtburg“, staunende Kids und vom historischen Kolorit faszinierte Mittdreißiger sitzen neben ihren Vätern und Großvätern, die sich nur allzu gut an ihre eigene Zeit als Taschenträger und Lumpenfußball-Kicker erinnern – und denen darum schon mal Tränen der Rührung über die Wange kullern.

Ähnliche emotionale Anwandlungen ergreifen den aufmerksamen Beobachter übrigens öfter im Ruhrgebiet: Die einstige Kohlegrube der Republik ist mittlerweile die einzige Region der Nation, in der Kultur nicht nur ab-, sondern auch mal aufgebaut wird. Nach der Erfindung der „Ruhrtriennale“, des mittlerweile zum Publikumsmagneten avancierten und mit sagenhaften 40 Millionen Euro pro Zyklus ausgestatteten Drei-Jahres-Festivals, nach dem Neubau eines Konzerthauses in Dortmund, das vor allem der Eigeninitiative eines klassikbegeisterten Unternehmers zu danken ist, wird im kommenden Sommer in Essen der aufwändig modernisierte Saalbau eingeweiht, unter anderem mit einem Konzert der Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle.

Ganz folgerichtig eigentlich, dass da auch Essen Ambitionen entwickelt, im Verbund mit seinen urbanen Nachbarn 2010 den Titel der europäischen Kulturhauptstadt tragen zu dürfen – mag es auch manchen weitgereisten Weltmann verwundern. Ausgerechnet der ehemalige Berliner Kultursenator Volker Hassemer trompetete bei einer Diskussionsveranstaltung zur Kulturhauptstadtbewegung ungeniert heraus: „Das Wort Ruhrgebiet weckt in mir noch keinen Kulturhunger.“ Offensichtlich dauert es eben doch länger als gedacht, bis sich positive Entwicklungen in der Provinz auch in den Metropolen herumsprechen. Andererseits: Sprüche von diesem Kaliber musste sich die deutsche Nationalmannschaft 1954 auch anhören. Und zwar bis zum Endspiel.

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