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Ein Löffel für La France: Kindermädchen an der Elfenbeinküste.

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Kinderbuch-Debatte: Die Sprache der weißen Mehrheit

Die aktuelle Debatte über politisch korrekte Sprache ist nicht neu. Im Gegenteil: Der Versuch, rassistische Begriffe umzudeuten, reicht bis in die 1930er Jahre zurück. Bislang waren die Betroffenen aber in der Minderheit. Die demografische Entwicklung könnte dies nun ändern.

Neue Zeiten erfordern neue Begriffe. Deshalb wäre es eigentlich eine Selbstverständlichkeit, das N-Wort in Kinderbüchern zu ersetzen. Es war niemals nicht rassistisch. Historisch gibt es vielerlei Beispiele für solche Bestrebungen – sie gehen fast immer von denjenigen aus, die sich zu Recht verletzt fühlen. Eine radikale Variante ist es, sich als Betroffener den rassistischen Begriff selbst anzueignen und zu dekonstruieren.

Die wohl bekannteste politisch-literarische Bewegung, die sich das vornahm, war die Négritude, eine Gruppe schwarzer frankophoner Intellektueller. Alle drei Gründerväter stammten aus den französischen Kolonien: Aimé Césaire aus Martinique, Léopold Sédar Senghor aus dem Senegal und Léon-Gontran Damas aus Französisch-Guayana. Sie trafen einander in den dreißiger Jahren in Paris. Ihr Programm war es, Kolonialismus und Rassismus zu überwinden und das Schwarzsein positiv zu bewerten.

Die Revolte bestand darin, den rassistisch konnotierten Begriff der Weißen aufzunehmen und für sich selbst als identitätsstiftend umzudefinieren. Der Philosoph Jean-Paul Sartre nannte das anti-rassistischen Rassismus. Daraus entstand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine internationale Bewegung, die die universale Befreiung des Menschen jenseits ethnischer Zugehörigkeit aus jedweden Zwangsverhältnissen zum Ziel hatte.

Dass ein solches Vorgehen kontrovers diskutiert wurde, liegt auf der Hand, benutzte man doch den Begriff, den die Kolonisatoren, die Weißen, die Unterdrücker, für ihre Erfindung des Afrikaners und der Afrikanerin geprägt hatten. Es lag eine Portion Essentialismus in dem Wort, denn es konstruierte eine vermeintlich einheitliche „schwarze Identität“ oder ein „Afrikanischsein“. Doch ob man Négritude nun wie Damas als Akt der Befreiung, wie Césaire als Reklamieren der eigenen Vergangenheit oder mit Senghor als gemeinsame panafrikanische Ästhetik oder Philosophie definiert, die sich auch auf Weiße beziehen lässt: Wichtig ist der Gedanke der eigenmächtigen Wiederaneignung von historisch belasteten Begriffen. So gelangt man aus der passiven Objektsituation in die Rolle des handelnden Subjekts.

Später wurde die Négritude zu einer ästhetisch-literarischen Bewegung. Gerade die Wahl der richtigen Sprache wurde stark diskutiert: Welche sollte man benutzen? Oft durften Kinder zu Kolonialzeiten nicht einmal die Muttersprache im Unterricht sprechen. Als Schüler in Algerien oder im Senegal musste man alle Fächer auf Französisch lernen, während zu Hause Varianten des Arabischen gesprochen wurden.

Unterricht in der Muttersprache gab es nicht, sie galt als minderwertig. Die Inhalte der Kinderbücher sprachen über das verschneite Frankreich und benannten die Gallier als Vorfahren. So wurde die literarische Sprache vieler Autoren das Französische – die „Rabenmuttersprache“, wie die algerische Autorin Assia Djebar die linguistische Zwangsheimat so treffend genannt hat. Inwieweit ist diese Sprache aber von den Rassismen des Kolonisators durchtränkt? Kann man überhaupt eine eigene Ausdrucksweise in dieser Sprache von West-, Nordafrika bis nach Martinique finden?

Es war immer herabwürdigend gemeint

Das politische Konzept der Négritude wurde gegen Ende des 20. Jahrhunderts vor allem durch Denker und Dichter aus der Karibik und aus Nordafrika, von Begriffen wie Kreolisierung oder Métissage (Vermischung) abgelöst: Damit lässt sich die Verfasstheit heutiger Kulturen wohl besser beschreiben. Doch Essentialismen hin oder her: Der Négritude-Bewegung ging es um eine Abkehr von dominanten rassistischen Narrativen. Genau hier liegt der Anschluss zur aktuellen Debatte.

Die Sprache der Literatur, ob für Kinder oder Erwachsene geschrieben, hat eine eigene Geschichte. Sie ist in einen Kontext eingebettet und steht für einen bestimmten Zeitabschnitt. Im N-Wort schwingt also immer das kulturelle Erbe mit: die Gräueltaten des Kolonialismus, die transatlantische Zwangsdeportation der Sklaven, entrissene und erstickte kulturelle Praktiken. Erst in der deutschen Nachkriegszeit begann man allmählich, Begriffe aus der Kolonialzeit, die von den Nationalsozialisten gezielt weiterbenutzt wurden, zu hinterfragen. Es gibt eine lange Forschung dazu, gerade zu Rassismen in den Schul- und Kinderbüchern. Wenn nun in der aktuellen Debatte darauf verwiesen wird, dass es einmal „normal“ gewesen sei, das N-Wort zu benutzen, muss man sich fragen, was das für eine Zeit war. Rassismus war eben überall salonfähig. Es kann keine „neutrale“ Verwendung des N-Wortes geben. Es war immer herabwürdigend gemeint. Nur waren die, die etwas dagegen gesagt hätten, in der Minderheit.

Hier kommt wieder die Négritude ins Spiel. Wenn jemand das Wort benutzen kann, dann nur derjenige, der sich selbst als Betroffener definiert. Dieser Prozess setzt in Deutschland erstaunlicherweise erst viel später ein als etwa in den USA, wo die Debatte um das N-Wort ein Politikum ist. Warum? Weil es einfach eine starke Präsenz schwarzer Menschen gibt. Seit mehr als 20 Jahren debattieren Afro-Deutsche, Deutsch-Türken und andere Bindestrich-Deutsche über gute Selbstbezeichnungen. Wörter wie „People of Color“ kommen dabei ins Spiel, aber auch die provokativ-programmatische Umkehr eines rassistischen Begriffs wie im Namen des antirassistischen Aktionsbündnisses „Kanak Attak“, ganz ähnlich der Négritude.

Das notwendige Nachdenken, welcher Begriff von wem wie aufgefasst werden kann und wie er für wen klingt, vollzieht sich derzeit zum Glück endlich im Einwanderungsland Deutschland. Da müssen Fragen debattiert werden wie: Wer kann welche Begriffe benutzen und gegenüber wem? Was sind „unsere“ Bücher? Wer ist überhaupt wir? Und wer liest in Zukunft die inkriminierten Kinderbuchklassiker? Wenn man die Statistiken ansieht, dann sind es zukünftig mehrheitlich die Kinder mit Migrationshintergrund. Und sie fühlen sich durch rassistische Begriffe verletzt. Da nützt auch keine Erklärung.

Worin sollte sie auch bestehen? Die Debatte über rassistische Begriffe in Kinderbüchern ist Teil eines notwendigen Prozesses, in dem sich eine multikulturelle Gesellschaft darüber verständigt, wie sie mit Diversität umgeht. Sie wird zwar noch hauptsächlich von denen geführt, die es gar nicht betrifft: von weißen Deutschen. Aber auch dies ist vielleicht ein erster Schritt, um sie an diejenigen zu übergeben, die als schwarze Deutsche ihren Kindern Sätze vorlesen müssen, in denen das N-Wort fällt.

Die Autorin ist Literaturwissenschaftlerin und hat mit Johannes Ismaiel-Wendt und Detlef Diederichsen in der Freiburger Orange Press zuletzt den Band „Translating HipHop“ herausgegeben.

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