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Was von der Berliner Mauer übrigblieb.

© picture alliance/dpa

Kinderbuch übers geteilte Berlin: Sputnikchen und andere Himmelsgenossen

Buchstäblich ein Wenderoman: Katja Ludwigs Ost-West-Geschichte „Das Mauerschweinchen“.

Es gibt ein Wort, in dem wie in kaum einem anderen das Gefühl von Behütetwerden und Zuhausesein mitschwingt: Schnittchen. Schnittchen machen nicht bloß satt, sie wirken auch gemeinschaftsstiftend. Das weiß man bereits aus Andreas Steinhöfels Kinderbuch „Rico, Oskar und die Tieferschatten“, wo Frau Dahling ihrem „tiefbegabten“ Nachbarjungen Rico Leberwurstbrote serviert, während sie vor dem Fernseher gemeinsam Liebesfilme gucken. Sie nennt sie „Müffelchen“. In dem Roman „Das Mauerschweinchen“ läuft „Das Traumschiff“ im Westfernsehen, als Oma Ilse dem Enkel Aron Schnittchen mit Gewürzgurken und einer Flasche Brause auftischt. „Iss“, sagt sie, „das ist gute Thüringer Leberwurst, die kriegst du nicht alle Tage.“

Unter der Mauer durchgemogelt

Wir befinden uns an einem Silvesterabend irgendwann in den achtziger Jahren in Ost-Berlin. Aron, 11, ist für ein paar Monate bei der Oma untergekommen, weil seine ehrgeizigen, stramm linientreuen Eltern nach Moskau delegiert worden sind. Die alte Frau ist, was ihr Verhältnis zu Sozialismus und Partei angeht, „nicht unbedingt ein Vorbild“, gilt aber wegen ihrer Verfolgung in der Zeit des Nationalsozialismus als OdF, „Opfer des Faschismus“. Sie lebt direkt neben der Mauer, die die Stadt in zwei Teile zerschneidet, an der Wolliner Straße 56, deren Kopfsteinpflaster „sich schweigend unter den Grenzanlagen hindurch tief hinein nach West-Berlin“ mogelt. Komplettiert wird die Wohngemeinschaft durch einen dreibeinigen Hund namens Ottokar, ein schwarz-braunweißes Zottelwesen. Ilse hatte es nach einem Unfall vor der Volkspolizei gerettet, die das Tier erschießen wollte.

Für Träume existieren keine Grenzen, sie können fliegen. Aron ist ein Tüftler, er baut Modelle von Fluggeräten und Passagierdrachen, die sich allein mithilfe von Wind und Luftströmungen am Himmel fortbewegen können. Jedenfalls theoretisch. Er nennt sie „Himmelsgenosse“ oder „Sputnikchen“, hat aber noch nie ausprobiert, ob sie wirklich flugtüchtig sind. Irgendwann, da ist er sicher, wird sein Name im Buch „Weltall – Erde – Mensch“ stehen, als „Wegbereiter der abgasfreien Flugzeugtechnik“, der die Luftfahrt revolutioniert haben wird. Ziemlich spektakulär ist schon das Abenteuer, von dem das Buch handelt. Es soll auf einer wahren Geschichte beruhen.

Nebenbei erzählte DDR-Geschichte

„Das Mauerschweinchen“ ist das literarische Debüt von Katja Ludwig, einer Chirurgin aus Berlin. Sie arbeitet auch als Erzählerin mit großer Präzision, entwirft skurrile, nicht immer liebenswerte Nebenfiguren wie die Fleischfachverkäuferin Fischhäuter und ihren Gatten Maxe, lässt Slapstick- und Suspensemomente wechseln. Die DDR-Geschichte kommt en passant vor, mitunter in Stichworten. Der ABV, lernt man, war der Abschnittsbevollmächtigte, ein Volkspolizist, der die Bewohner eines Viertels betreute und überwachte. Vor ihm muss Aron sich hüten, nachdem er mit Silvesterböllern einen Briefkasten in die Luft gejagt hat. Und Ilse ist eine „Wandel-Omi“. Als Rentnerin darf sie die Grenze gen Westen passieren. Wenn sie zurückkommt, hat sie echten Bohnenkaffee dabei.

Den Begriff Wenderoman kann man hier wörtlich nehmen. Das „Mauerschweinchen“ ist ein Doppelbuch, von der einen Seite wird Arons, von der anderen Seite aus Noras Geschichte erzählt, in der Mitte treffen beide aufeinander. Nora lebt gleich auf der anderen Seite der Mauer, Wolliner Straße 46, guckt dabei aber auf Sponti-Sprüche wie „Edel sei der Mensch, Zwieback und gut“ oder „In Wirklichkeit ist die Realität ganz anders“. Sie ist ebenfalls 11, nichts wünscht sie sich so sehr wie ein Haustier. Ihre Story ist deutlich schwächer.

Meerschweinchen in der Speisekammer

Womit wir bei der Titelfigur angekommen wären. Als die Familie Müller überstürzt aus dem Haus von Oma Ilse verschwindet – sie darf in die Bundesrepublik ausreisen –, bleibt ihr Meerschweinchen zurück. Es heißt Bommel und landet in der Speisekammer der Metzgersnachbarn. Aron wird zum Einbrecher, um es zu befreien. Was folgt, ist eine Verfolgungsjagd bis aufs Hausdach und ein aviatisches Kunststück. Nora erlebt es so: „Zuerst sah sie nur einen Punkt von irgendetwas. Ein Vogel konnte es nicht sein, denn ihm fehlte der Flügelschlag, und Flugzeuge kamen nicht aus Richtung Osten. Es kam aus dem Land jenseits der Mauer. Aber was war es?“ Superman? Nein, ein Nagetier hat gelernt sich durchzubeißen, bald wird die Mauer fallen.

Katja Ludwig: Das Mauerschweinchen. Ein Wendebuch. Mit Illustrationen von Uwe Heidschötter. cbj Verlag, München 2019. 216 Seiten, 13 €. Ab neun Jahren.

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