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Kultur: Kindheitsliebe: Christa Wolfs letztes Buch

August ist Busfahrer. Den Ruhestand schon in Sichtweite, bringt er auf einer seiner letzten Fahrten eine Seniorengruppe von Prag zurück nach Berlin.

August ist Busfahrer. Den Ruhestand schon in Sichtweite, bringt er auf einer seiner letzten Fahrten eine Seniorengruppe von Prag zurück nach Berlin. Während hinter ihm fröhlich „Ännchen von Tharau“ angestimmt wird und erst das Sandsteingebirge, dann Dresden vorbeiziehen, verliert sich August in Erinnerungen: an sein beschauliches Leben mit Trude, seiner verstorbenen Frau, in der längst untergegangenen DDR. Und vor allem an „die Lilo“, ein Mädchen, das August als Kind kurz nach Kriegsende kennenlernte.

Damals, Ende 1946, ist August acht Jahre alt, sein Vater ist verschollen, die Mutter auf der Flucht ums Leben gekommen. Weil der Junge, wie viele in der damaligen Zeit, die „Motten“ hat, also tuberkulös ist, kommt er in die „Mottenburg“ – eine provisorische Lungenheilstätte in einem Schloss bei Boltenhagen an der mecklenburgischen Küste. Dort begegnet August „der Lilo“, ebenfalls krank und einige Jahre älter als der Junge. Christa Wolf hat diese Episode, die im Zentrum ihrer letzten, nun posthum veröffentlichten Erzählung steht, schon einmal geschildert – gegen Ende von „Kindheitsmuster“, ihrem großen autobiografischen Roman aus dem Jahr 1976. Dort heißt das Mädchen Nelly und tritt als Alter Ego der Autorin auf, mit der Betonung auf „Alter“ – so anders, so fremd blickte die hitlergläubige Jungmädel-Führerin, die Christa Wolf einmal war, der sozialistisch aufgeklärten Erzählerin in ihrer DDR-Gegenwart entgegen.

Viele Einzelheiten und Personen jener Monate in der Mottenburg, an die sich August irgendwann um das Jahr 2005 erinnert, begegnen dem Leser daher wieder: die resolute, an der Sumpfgegend verzweifelnde Oberschwester und die fidele Ärztin, die mit Alkohol und männlichen Gästen die verlorenen Kriegsjahre nachzuholen versucht. Die Durchleuchtungen der mottenbefallenen Lungen durch den Röntgenarzt Dr. Brause, bei denen Nelly/Lilo assistieren darf. Das unheimliche nächtliche Klopfen, mit dem sich eine Mutter in der dritten Nacht nach ihrem Tod von ihren Kindern verabschiedet haben soll. Das gemeinsame Sarg-Schauen der Mottenbewohner: Wird ein Toter mit den Füßen zuerst hinausgetragen, bedeutet das, dass ihm bald jemand „nachlaufen“ wird.

Und die traurige Geschichte vom Hannelörchen, die so gern „Meine Güte, drei Bonbons in einer Tüte“ sagte. Nelly/Lilo singt der hochinfektiösen Kleinen, ungeachtet der Gefahr, auf dem Sterbebett vor, wie August beobachtet. Er ist sich sicher, dass das selbstlose schöne Mädchen einen „Schutzengel“ hat. „Die Lilo“ rezitiert für ihn Gedichte, unterrichtet ihn im Schreiben und isst mit ihm die Kartoffeln, die er für sie vom Feld gemopst hat. Sein Leben lang wird August dankbar dafür sein, „daß es in seinem Leben etwas gegeben hat, was er, wenn er es ausdrücken könnte, Glück nennen würde“, wie es heißt, als der alte Mann in der Gegenwart, zurück in Berlin-Marzahn, wieder seine einsame Wohnung aufschließt.

„August“ entstand im Juli 2011, ein halbes Jahr vor Christa Wolfs Tod. Es ist die ungemein berührende Geschichte einer kurzen Kinderliebe vor dem Hintergrund von Kriegsende, Krankheit und Tod. Ein letztes Mal vermischen sich, wie so oft in Wolfs Texten, die Zeitebenen, meldet sich das Gestern im Heute zu Wort. „August (…) sieht alles vor sich, als wär’s ein naher Film. Wo er doch sonst so vieles vergessen hat, weil es sich nicht lohnte, denkt er, es zu behalten.“ Allein der betont zufriedenen DDR-Existenz von August und Trude, denen es an nichts fehlte, wie es einmal heißt, und die ihre Urlaube gern auf ihrem Plattenbau-Balkon verbrachten, könnte man eine, gerade angesichts von Wolfs Alterswerk „Stadt der Engel“, überraschende Sentimentalität ankreiden.

Ihre ganze emotionale Wucht entfaltet die kurze Erzählung einer schon schwerkranken Autorin jedoch erst vor dem Hintergrund des Romans. Denn in „Kindheitsmuster“ hatte die Erzählerin für den kleinen August nur einen einzigen Absatz übrig. Fast abfällig heißt es im Roman, er sei ein „plumper, vierschrötiger, schwerfälliger Junge“ gewesen. Eifersüchtig habe er sich mit seinen „Hundeaugen“ an Nelly geklammert und ihr noch nach ihrer Entlassung unbeholfene, fehlergespickte Briefe geschrieben.

Für die Ich-Erzählerin des Romans zeichnet sich jene Heranwachsende, die sie einmal war und die vom Verlust der Heimat (auch ihrer geistigen, des Nationalsozialismus) verstört ist, durch emotionale „Panzerung“ aus. Vor dem Leid Hannelörchens will Nelly davonlaufen; die anhängliche Liebe des kleinen August ist ihr nur lästig. Beim Abschied verspricht „die Lilo“ dem Jungen, ihn nicht zu vergessen, erinnert sich August in der Erzählung – angesichts des Romans muss man annehmen, dass er ihr erst Jahrzehnte später beim Schreiben ihrer Jugenderinnerungen wieder einfiel. Wirklich eingelöst hat „die Lilo“ ihr Versprechen erst jetzt – mit einer ihrer schönsten Erzählungen überhaupt. Oliver Pfohlmann

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