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Rollout

© Warner

Kino: Als die Bilder fliegen lernten

Rollout ins digitale Zeitalter: über den schweren Abschied vom guten alten Zelluloid und die Zukunft des Kinos. Ein Ort für die Sinne: noch mehr Spektakel oder Oase?

Wer heute ins Kino geht, setzt sich einem Paradox aus. Auf der Leinwand läuft ein Film, der digital aufgenommen oder bearbeitet wurde, während hinter dem Rücken des Zuschauers eine antiquierte, 200 Kilogramm schwere Maschine rattert. Das Kino des frühen 21. Jahrhunderts bietet eine verblüffende Liaison zwischen der alten mechanischen und der neuen digitalen Welt: Eine Technologie des 19. Jahrhunderts gewährleistet, dass kilometerlange zusammengeklebte Streifen abrollen und an einem hellen Fenster vorbeiziehen. Gleichzeitig ist dies das letzte analoge Glied in einer weitgehend geschlossenen digitalen Bilderverwertungskette.

Der Filmindustrie ist der Anachronismus ein Dorn im Auge, wegen der Abnutzungsspuren, der Schwerfälligkeit der analogen Projektion und wegen des Kostenfaktors der auf fotochemischem Material basierenden „Rollenwelt“. Warren Lieberfarb – Miterfinder der DVD, bis 2002 Präsident von Warner Home Video, heute Microsoft-Berater – rechnet vor, dass allein ein flächendeckender US-Filmstart bei einem Stückpreis von 2000 Dollar angesichts von 4000 Kopien einfach zu teuer ist. Noch ist ein kostengünstiger Spielfilmverleih über das Internet Zukunftsmusik. Aber die Lösung der Downloadprobleme von hohen Datenmengen ist laut Lieberfarb nur noch für eine Frage der Zeit.

Wer soll die teure Umwandlung von Zelluloid auf Pixel bezahlen? Ein digitaler Projektor kostet bis zu 100 000 Euro – viermal mehr als sein unverwüstliches analoges Pendant – und niemand kann heute sagen, wie störanfällig die neuen Geräte sind und ob sie morgen noch up to date sind. Die Kinobetreiber gehen also ein großes Risiko ein, wenn sie den digitalen Rollout selbst finanzieren. Die AG Kino-Gilde warnt deshalb vor Kinoschließungen. Ihr zufolge sind bis zu 500 Millionen Euro nötig, um alle 4800 Säle in der Bundesrepublik mit digitalen Projektoren zu versehen. Im Sommer 2007 wurde deshalb ein Forderungskatalog erarbeitet: Bund, Länder, Förderinstitutionen sowie die gesamte Film- und Kinoindustrie sollen bei der Finanzierung der Umrüstung mitwirken. Mal sehen, wie die Beteiligten sich einigen werden.

Auch Hollywood sieht sich mit Problemen konfrontiert, die viel mit Macht- und Verteilungsfragen zu tun haben. 2002 kamen sieben große US-Studios zusammen, um sich auf ein digitales Standardformat zu einigen. Mit einer viermal so hohen Auflösung wie HDTV ermöglicht es eine schärfere Bilddarstellung als je zuvor. Noch gibt es den 35-Millimeter-Film als jahrhundertalten, weltweit gültigen Standard. Sollten sich große Kinoregionen wie Indien, China oder der arabische Raum der US-Entscheidung nicht anschließen und ein anderes digitales Format wählen, würde ausgerechnet die Digitalisierung das Ende des Kinos als eines globalen Mediums bedeuten – und das im Zeitalter der Globalisierung.

Viele fürchten außerdem um die Sicherheit der Daten. Das Drama der Musikindustrie könnte sich beim Film wiederholen. Um den wirtschaftlichen Schaden durch Raubkopien gering zu halten, müssen die Filmdaten stark verschlüsselt werden. So können die Projektoren mit Wasserzeichen versehen werden, die ins Bild übertragen Aufschluss darüber geben, wann und wo der Film projiziert wurde. Wer dann raubkopiert, hat solche Informationen mit auf dem Bild. Ohnehin ermöglicht die Digitalisierung erheblich mehr Kontrolle über jede Vorführung. Die Verleiher werden Provider und können Vorführungen stoppen, wenn sie nicht gewinnträchtig sind. Und der Kinobetreiber, derzeit noch ein freier Unternehmer in Sachen Filmkunst, wird zu einer Art Tankstellenwart degradiert.

Schon heute schauen sich Jugendliche lieber Kurzvideos auf Youtube an. Ico Mobile zeigt erfolgreich, wie man aus Handybesitzern Zuschauer macht. Die Bilderlawine wird nicht nur größer und schneller, Bilder werden auch ortlos, vagabundieren im Computer, im iPod, auf dem Mobiltelefon. So verabschiedet sich das Kino aus der Kollektivrezeption. Unterwegs und zu Hause wird getippt, gestoppt, übersprungen und abgerufen, wird das individualisierte TV-Verhalten auf die audiovisuellen Produkte übertragen. Jeder macht sich sein eigenes Programm.

Dieser „Fragmentierung“ kann das Kino dann doch etwas entgegensetzen. Sein Mehrwert heißt Kollektivität, Gemeinschaftserlebnis, Konzentration. Auch wenn die Branche gerade einen Aufschwung verzeichnet, ändert das nichts an der Tatsache, dass die Kinobetreiber den demografischen Wandel spüren: Die klassischen Zielgruppen schrumpfen, der Besucherrückgang ist unumkehrbar. Also bastelt man an neuen Nutzungsmodellen: Kinos sollen Event-Orte werden, Treffpunkte für kulturelle Ereignisse. Mittels digitaler Datenträger können Livebilder und -töne überallhin übertragen werden: Opern- und Theaterpremieren, Vorträge, Boxkämpfe, Wahlkampfveranstaltungen. Der Vorteil: Es gehen wieder mehr Leute ins Kino, vor allem Bildungsbürger oder ältere Zuschauer. Der Nachteil: Die Filme verlieren Programmplätze.

Für die Kids und die jungen Männer könnte dagegen das Erlebniskino attraktiv sein, mit noch mehrAction, noch mehr Spektakel: 4-D Motionride statt 3-D. Die Spezialeffekte verlassen die Leinwand und erfassen den Zuschauer. Sitzbänke, die auf sechs Achsen gelagert sind, werden mit den Bewegungen im Film synchronisiert. Wind-, Nebel-, Sprühregeneffekte und 3-D-Brillen machen die Illusion perfekt. Auf einem Snowboard geht es dann in rasantem Tempo durch eine gigantische Winterlandschaft; im Fachjargon heißt das „Maximal Adrenalin Dosis Kino“, kurz MAD. Der Fantasyfilm „Beowulf“, der im Winter 2007 in den deutschen Kinos lief, vermittelt eine Ahnung von all dem: atemberaubende Kamerafahrten, ein irrsinniges Tempo und ein Sound, dass einem die Ohren abfallen. Derzeit wird an verbesserten Tonsystemen für einen akustischen 360-Grad-Effekt gebastelt.

Dreidimensionales digitales Kino, sagen die Pioniere der Branche, könnte im Kampf um den Home-EntertainmentMarkt ein Trumpf sein. Allerdings müssen dann auch genügend 3-D-Filme vorliegen. 2008 stehen einige in den Startlöchern, für 2009 verspricht „Titanic“-Regisseur James Cameron mit der Science-Fiction-Saga „Avatar“ ein Mega-3-D-Erlebnis. Experten schätzen, dass die Zahl von 1300 3-D-Kinos weltweit bis Ende 2009 auf 6000 steigen wird. Skeptiker dagegen fürchten einen 3-D-Flop.

All diese technischen Aufrüstungen sind Versuche, den Zuschauer möglichst heftig zu beeindrucken, nach dem Vorbild der dreidimensionalen Multisensorik von Disneyland. Das Kino der Zukunft wird ein Ort der Extreme: Es bietet entweder Reizüberflutung oder eine Oase für die Sinne. In einer Gesellschaft, die überschleunigt, disparat und chaotisch ist, wünscht man sich einen Ort der Entlastung, des Schutzes. Das Kino könnte eine „Arche Noah in der steigenden Springflut der Bilder“ werden, wie der Medientheoretiker Vilém Flusser es nannte. Endlich in Ruhe gelassen werden, unbeobachtet sein und sich im Dunkel des Saals dem Lichtspiel auf der Leinwand hingeben.

Noch kann das Kino mit der großen Leinwand punkten: „Schlimm! Große Schauspieler durch kleine USB-Anschlüsse gezwängt“, titelt eine aktuelle Marketingkampagne. Und es lockt mit der Aussicht, Gleichgesinnte zu treffen. Vielleicht wird das kommunale Kino um die Ecke auch ein attraktiver Ort für die Game-Community, um die Vereinzelung am heimischen Rechner gegen das Gemeinschaftserlebnis einzutauschen. Das Kino – und darin unterscheidet es sich fundamental von allen Bildschirmmedien – kann sich unserer unbedingten Aufmerksamkeit sicher sein. Deshalb wird die digitale Revolution es zwar gründlich verändern. Aber abschaffen wird sie es nicht.

Die Autorin ist Medienwissenschaftlerin und hat das Buch „Zukunft Kino – The End of the Reel World“ herausgegeben, u. a. mit Beiträgen von Peter Greenaway, Tom Tykwer und Edgar Reitz (Schüren Verlag, Marburg 2008, 350 S., 29,90 Euro).

Daniela Kloock

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