zum Hauptinhalt

Kino: Der Polarforscher

Jürgen Vogel ist dafür bekannt, dass er schauspielerisch und privat gerne Extreme ausprobiert. Für Matthias Glasners Film „Gnade“, der am Donnerstag in die Kinos kommt, stand er in den Frostwüsten Nordnorwegens vor der Kamera.

Irgendwann im August: Zappen durchs Fernsehprogramm. Samstagabendmurks. Ratesendungen, Spielshows, auweia, nein, das ist ja Jürgen Vogel, der da im Ersten neben Witzeonkel Markus Maria Profitlich im ARD-Starquiz auftritt. Beide im Karohemd, beide kahlköpfig. „Team Deoroller“, kalauert Moderator Kai Pflaume. Der Schauspieler grinst, rät, witzelt – der Spaßvogel als Statist in der Frohsinnshölle. Irgendwann im September: Im Zweiten läuft „Die Stunde des Wolfes“, ein Mysterythriller, der in einem von Regisseur Matthias Glasner pittoresk in Szene gesetzten Erzgebirgskaff spielt. Auch hier ist Vogel dabei. Er spielt den untoten Gatten der Heldin – bleich, bedeutungsschwer schweigend. Vogel als Nachtgespenst.

Und jetzt kommt „Gnade“ ins Kino, Matthias Glasners Drama über eine nach Hammerfest ausgewanderte deutsche Familie. Jürgen Vogel spielt den Ingenieur Niels, einen Schmerzensmann in Daunenjacke und Norwegerpullover. Käsig, stoppelbärtig, eindrucksvoll. Jetzt steht er aber erstmal grinsend im Lichthof des Brandenburger Hofs in Charlottenburg. Interviewtag, eins folgt aufs nächste. Regisseur Glasner und Schauspielkollegin Birgit Minichmayr, die im Film Niels’ Ehefrau Maria spielt, sind auch da. Vogel ist der lässigste von ihnen, ein PR-Profi, netter Typ im Karohemd.

Und überraschend klein. Im Weißblau, Weißgrau, Graublau der Polarlandschaft sah er irgendwie größer aus. Auch schwerer, niedergedrückt von eigener und fremder Schuld, von Niels’ moralischem Dilemma. An Vogel selbst perlt seine ebenso frösteln wie fiebrig machende Darstellung eines Ehemanns ab, der von seiner Frau genötigt wird, ihre Fahrerflucht zu decken. „So eine Rolle geht mir nicht nach, das kann ich gut trennen.“ Der Dreh in den betörend schönen, im Film weidlich als Metapher für Isolation und Stagnation eingesetzten Frostwüsten Nordnorwegens sei hart, aber sehr lustig gewesen. „Gerade bei ernsten Filmen wird abends viel gelacht und gefeiert. Das eine muss so sein, damit man das andere kann.“ Bei Dunkelheit und minus 20 bis 30 Grad mache man sowieso keine Spaziergänge. Ob ihm die Polarnacht, in der die Sonne von Mitte November bis Ende Januar hinter dem Horizont verschwindet, zugesetzt hat? Ja, aber auch fasziniert. „Dieses nicht im Licht leben zieht einen ganz schön runter. Andererseits reduziert dich die fehlende Ablenkung von außen auf genau das, was du in diesem Moment tust.“

Dass er schauspielerisch und privat gern Extreme ausprobiert, dafür ist der 1968 in Hamburg geborene Autofreak, Kampfsportler und Raucher bekannt. Deswegen spielte er Improcomedy in der „Schillerstraße“, testete in der Fernsehsendung „Fat Machines“ Panzer und Baumaschinen. Deswegen gründete er mit seinem Freund Matthias Glasner 1995 die Schwarzweiss-Filmproduktion, spielte einen Triebtäter in „Der freie Wille“ und dreht „Gnade“ in ebenso grausamer wie grandioser Landschaft.

Sogar vom Eisfischen, zu dem seine Filmfigur den unwilligen Teenagersohn im Schneesturm schleppt, hat sich Vogel bezaubern lassen. „Du liegst zusammengekauert auf einem Fell auf dem rutschigen Eis und versuchst, aus einem kleinen Loch vor dir einen Fisch zu holen.“ Den Fisch hat Vogel anschließend selbst erschlagen. Klar, sagt er, wer Fisch essen wolle, müsse töten. Das hat er als Junge an der Alster geübt, wo er früher Rotaugen und Aale fing. Aber zurück in Berlin, wo Vogel mit seiner Familie am Prenzlauer Berg lebt, war nach dem Dreh mit dem Angeln wieder Schluss.

Dass der fünffache Vater ein Familienmensch ist, betont er gern. Dass in der Vater-Mutter-Kind-Familie in „Gnade“ der Wurm steckt, interessiert ihn gerade deswegen. „Das macht die Figuren menschlich“, sagt er. „Wir sind fehlerhafte Wesen.“ Niels, seine Frau und der Sohn suchen in Norwegen einen Neuanfang, eine zweite Chance. Die Integration durch Sprachkenntnisse, Arbeit und Schule gelingt, nur erzeugt die norwegische Kälte nicht die erhoffte Nähe, sondern bringt im Gegenteil die Webfehler der Charaktere unerbittlich hervor. „Die Menschen machen sich Hoffnungen, dass wenn man – wie beim Auswandern – sein Leben äußerlich verändert, auch das Innere nachrückt. Aber das funktioniert nicht.“ Vogel glaubt, dass diese von ihm bevorzugt dargestellten gebrochenen Figuren, solche nicht mal eben einfach so konsumierbaren Geschichten in Deutschland nur Glasner erzählen kann. „Und das ist ein Bestandteil des Kinos, der wichtig ist.“

Erst das Unglück, das der überarbeiteten Hospizschwester Maria im grünen Schein des Polarlichts auf der Landstraße widerfährt, sorgt dafür, dass sich das Paar einander wieder zuwendet. Und am Ende gewährt der Film seinen Helden nach der Beichte in einem etwas faulen Happy End wenn nicht Erlösung, so doch zumindest die Gnade der Vergebung. Ohne die könnten wir gar nicht leben, sagt Jürgen Vogel, der, wie er so da sitzt mit seiner Zigarette in der Hand, schon wieder viel pastoraler redet, als er aussieht.

Sich schuldig zu machen, sei nun mal die Natur des Menschen, doziert er und setzt nach: „Vergeben lernen ist ein Prozess von vielen Jahren.“ Fast genauso mühsam ist es, Norwegisch zu lernen. Das hat Vogel im Gegensatz zu seiner perfektionistischer veranlagten Kollegin Minichmayr bei der Vorbereitung weitgehend ausgespart. Er habe nur ein paar Sätze gelernt, sagt er und flachst. „Aber Birgit ist Streber, die hat wirklich die Sprache gelernt.“ Vogel gibt wieder den Spaßvogel.

„Gnade“ feiert am Montag um 20 Uhr Premiere im Kino International. Kinostart ist am Donnerstag, 18. Oktober.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false