zum Hauptinhalt

Kino: Für mich bist du schön

„Precious“, der US-Überraschungserfolg über eine unmögliche Heldin.

Die wunderbare Leichtigkeit dieses Films steht in einem gewissen Gegensatz zur Körperform seiner Hauptheldin, ja, sagen wir es ruhig genauer, ihrer Körpermasse, denn das Wort „Übergewicht“ lässt nicht im Ansatz ahnen, wie dieses Mädchen, Precious genannt, aussieht.

Sie ist keine sechzehn Jahre alt und hat alles, was eine geborene Verliererin des Lebens braucht. Sie ist weiblich, schwarz, schwer missbraucht, von erwähnter Gestalt, wohnhaft in Harlem, zum zweiten Mal schwanger, Analphabetin. Man dürfte „Precious“ für einen latent rassistischen Film halten – so ist er in Teilen auch in den USA aufgenommen worden –, denn er potenziert alle Klischees über die Schwarzen in Amerika. Natürlich wohnt Precious mit ihrer Mutter allein, natürlich leben sie von der Fürsorge. Und wenn Precious’ Vater die beiden doch einmal besucht, dann um seine Tochter zu vergewaltigen, womit die tiefste Grausamkeit hier noch nicht einmal benannt ist.

Wann haben wir zuletzt einen Film von solcher Härte, solchem Ernst gesehen? Genauer, einen vor Komik und Lebenslust überbordenden Film von solcher Härte? Zu dem ebenso dümmlichen wie biederen deutschen Untertitel „Das Leben ist kostbar“ nur so viel: Nichts von dieser täppischen Überdeutlichkeit findet sich in diesem außerordentlichen Stück Kino. Das ist umso mehr erstaunlich, als „Precious“ von der ersten Minute an eine Off-Erzählerin hat: Die Hauptfigur berichtet ihr Leben. Gewöhnlich weisen solche Filme eine enorme Bodenhaftung auf, aber dieser wird immer leichter. Und statt dass die Bilder zur bloßen Illustration des Erzählten werden, scheinen sich die Worte und Szenen gegenseitig fortzureißen. Ein Bild-Sprach-Sog von faszinierender Musikalität.

Nein, es macht gar nichts, alle Lebensumstände dieses Mädchens vorwegzunehmen, denn Worte können hier gar nichts vorwegnehmen. „Precious“ ersteht erst vor unseren Augen, der Film verdankt alles seiner großartigen Hauptdarstellerin Gabourey Sidibe und seiner virtuosen, traumsicheren Sprache, und das ist umso bemerkenswerter, als dieser Film durchaus auf ein Buch zurückgeht: auf den Bestseller „Push“ von Sapphire. Er spielt im Harlem der 80er Jahre.

1996 hatte Produzent und Regisseur Lee Daniels das Buch zum ersten Mal gelesen und gewusst: Das bist auch du. Daniels dazu: „Ich musste erst einmal tief durchatmen. Ich kannte derart viele Menschen, die nur einen Schritt von den Charakteren des Buches entfernt waren.“ Vielleicht gab es 99 Möglichkeiten, an diesem Stoff zu scheitern und nur eine des Gelingens. Daniels hat sie genutzt. „Precious“ wurde zu einem Überraschungserfolg in Amerika. Es geschieht äußerst selten, dass Zuschauer und Kritik sich so einig sind. Der Film gewann die Publikumspreise sämtlicher Festivals, wurde dreimal für den Golden Globe und sechsmal für den Oscar nominiert, hinzu kamen weitere Preise. Geoffrey S. Fletcher erhielt schließlich den Oscar für das beste adaptierte Drehbuch, die Komikerin Mo’Nique als Prescious’ Mutter wurde als beste Nebendarstellerin ausgezeichnet. Auch den Golden Globe hatte sie schon bekommen.

Für ihre Rolle der Mutter hat die Komikerin Mo’Nique einen Oscar gewonnen. Foto: dpa
Für ihre Rolle der Mutter hat die Komikerin Mo’Nique einen Oscar gewonnen. Foto: dpa

© dpa

Wie sehr hätte man Gabourey Sidibe den Hauptdarstellerinnen-Oscar gewünscht. Ein offeneres verschlossenes Gesicht ist kaum vorstellbar, und verschlossen ist es schon deshalb, weil ihre Augen ganz tief liegen, so als hätten sie schon genug von der Welt gesehen. Wie findet man eine wie sie? Nach endlos langen ergebnislosen Castings, eher durch Zufall, im letzten Augenblick.

Die Studentin Gabourey Sidibe wusste genau, wer diese Precious ist. Sie betritt jeden Raum mit der Gewissheit, „der hässlichste Mensch“ (Sidibe) darin zu sein. Sobald sie einen Schritt aus der Tür setzt, wird sie verhöhnt. Natürlich könnte sie ganz zu Hause bleiben wie die Mutter, die ihr Leben vor dem Fernseher verbringt und die Wohnung bloß noch zum Lottospielen verlässt. Nur: Zu Hause ist es noch schlimmer. Man fragt sich lange, was aus einem Menschen, gar einer Mutter, ein solches Ungeheuer machen kann. In der letzten Szene – hier keinesfalls vorwegzunehmen – erfahren wir es, und es wird eine atemberaubende Erklärung sein. Meistens machen Gründe eine Sache erträglicher, hier nicht.

Die Tochter ist die letzte Verbindung der vom Leben und ihrem Mann verratenen Frau zur Wirklichkeit. Sadismus braucht keine besondere Veranlagung. Er beginnt mit der Reaktion eines hoffnungslosen Daseins, auch alle Hoffnung ringsum auszulöschen, weil es schon ihren Anblick nicht erträgt.

„Precious“ gibt den Blick frei in die menschliche Hölle. Schafft sich jede Hölle ihren Himmel? Wenn es besonders schlimm kommt, nimmt Precious Zuflucht zu ihren Doppelgängerinnen, die niemand kennt außer ihr: Precious, das Supermodel, Precious, der umjubelte Star … Daniels’ Übergänge zwischen außen und innen sind virtuos.

Precious geht gern zur Schule. Die wenigen Augenblicke von Glück erlebt sie hier. Sie kann zwar nicht lesen, aber sie kann rechnen, und sie spürt die Dankbarkeit ihres Mathematiklehrers, dass wenigstens eine in der Klasse tut, was er sagt. Aber als die Fünfzehnjährige zum zweiten Mal schwanger wird, fliegt sie von der Schule. Die Direktorin will mit ihrer Mutter sprechen, doch Precious weiß, dass es ihr übel ergehen würde, wenn sie „die weiße Schlampe“ mit nach Hause bringt. Nur für die Fürsorge (gelungener Einstieg in ein neues Rollenfach: Mariah Carey als Sozialarbeiterin!) gibt die Mutter sich noch Mühe.

Und dann hält Precious die Adresse eines neuen Lebens in der Hand, die Adresse einer Schule für bald volljährige Analphabetinnen wie sie. Wieder ist sie die Hässlichste im Raum. Die Mädchen passen nicht zusammen und finden doch zueinander, und irgendwann liest Precious es in ihren Augen: Dass sie schön ist, und sei es nur, weil die anderen in dieser Schule sie mögen.

Ab Donnerstag in den Berliner Kinos Broadway, Cinemaxx Potsdamer Platz, Eiszeit, FT Friedrichshain, International, Karli, Kulturbrauerei, Neue Kant Kinos, Yorck, OV Cinestar Sony-Center, OmU Odeon und Hackesche Höfe

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false