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Sprachlos. Tilda Swinton und John C. Reilly in „We need to talk about Kevin“.

© Festival

3. Festivaltag in Cannes: Glaub an dich!

Perfekt gemachte Filme - aber was wollen sie erzählen? Tilda Swinton, Nanni Moretti und Michel Piccoli beim Festival in Cannes.

Eva muss eine Art Engel sein. Nachdem ihr Sohn Kevin sich zum 16. Geburtstag ein Blutbad unter seinen Mitschülern gegönnt hat, ausgeführt mit Pfeil und Bogen von der Empore der verriegelten Turnhalle, zieht sie nicht etwa weg aus ihrem Haus und der Stadt. Sondern lässt sich von anderen Müttern ohrfeigen und kratzt unendlich langsam die von Nachbarn aufgespritzten roten Farbspuren von der Fassade. Oder will sie auch diese Demütigung hinnehmen, wie sie ein viel früheres Attentat nie beseitigt hat - Kevins massive Attacke mit der Spritzpistole auf ihre mit Landkarten tapezierte Zimmerwand?

Vielleicht ist diese Eva, gespielt von Tilda Swinton als masochistische Mater Dolorosa, aber auch ein Monster. Mit Kevin hat sie eine Art Teufel geboren, und sie lässt ihn gewähren, von Anfang an. Drei Jüngst- und Jungschauspieler, zuletzt Ezra Miller, haben als Kevin den dauerbösen Blick und drauf, bis die Katastrophe sich entlädt. Monster Nummer ist Kevins Vater (John C. Reilly): Er ist so ewignett wie ahnungslos und fördert den jungen Bogenschützen, bis ein Pfeil Kevins kleine Schwester ins linke Auge trifft. Ein Unfall? Wer's glaubt.

Lynne Ramsays "We Need to Talk About Kevin", gedreht in möglichst blutroten Farben, ist ein Hammer. Ein Vorschlaghammer. Ein extremes, ja, manieristisches exercice de style in Cinemascope, mit starken Kinobildern um der starken Kinobilder willen, nahezu ohne Dialoge, ohne Psychologie. Nein, in dieser Familie spricht niemand über Kevin. Und es spricht auch niemand mit Kevin. Hier findet Erziehung schlicht nicht statt. Das aber weiß jeder, der sich mit dem schmerzhaft aktuellen Thema der Schulattentate beschäftigt. Das einzige, was der Film dem - womöglich wider Willen - hinzufügt: Alles scheußliche Leute hier.

Ist dies das erste Leitmotiv dieses Festivals? Man nehme kalt konzipierte, kinematografisch perfekte oder zumindest stilistisch konsequente Filme - aber ob und was sie zu erzählen haben, ist dann weniger wichtig? Auch "Sleeping Beauty", das Regiedebüt der australischen Schriftstellerin Julia Leigh, setzt auf erlesene Kompositionen, nur geht es hier vor allem um Sex statt Gewalt. Die hübsche Studentin Lucy (Emily Browning) nimmt in einer Villa fernab der Stadt einen lukrativen Nebenjob an. Sie lässt sich in künstlichen Tiefschlaf versetzen, während ältere Männer sie als nackte Gespielin verwenden. Einziges Verbot: die Penetration.

"Sleeping Beauty" beginnt damit, dass Lucy als Probandin für ein medizinisches Labor jobbt. Und er endet abrupt, als sie die Bedingungen ihrer neuesten Versuchsanordnung zu erkunden beginnt: Kann man das Gefühl der Demütigung dadurch eliminieren, dass man das Bewusstsein ausschaltet? Ansonsten begnügt sich das elegant inszenierte filmische Experiment mit der sorgsamen Auspinselung eines Settings, das sich zwischen "Die Marquise von O." und "Die Geschichte der O" nicht recht entscheidet. Was von Reiz ist, wenn auch von zweifelhaftem.

Bei so viel (Alb-)Traumillustrationen ist "Polisse" der französischen Regisseurin Maiwenn zunächst überaus willkommen. Denn hier geht es offenbar um den knallharten Alltag in einem Pariser Polizeidezernat, das sich um Fälle von Kindesmissbrauch und um jugendliche Delinquenten kümmert. "Polisse" aber erschöpft sich schnell darin, dass er dauernd brüllende Protagonisten aufeinanderhetzt - ob dienstlich oder privat oder in der hochaktiven Zone zwischen beiden Welten. Und auch der semidokumentarische Habitus mit Handkamera und Nahaufnahmen erzählt nicht vom echten Leben, sondern variiert nur einmal mehr das fernsehvertraute Polizeiserien-Material.

Stilübungen, Stilübungen. Und dann kommt ein Meister wie Nanni Moretti vorbei, und plötzlich erscheint selbst ein nicht ganz meisterlicher Film wie ein neues Meisterwerk. "Habemus papam" bewegt sich zwischen göttlicher Komödie und sehr menschlicher Tragödie, und entscheidet sich mutig und überraschend für das Eine. Oder wird einem am Ende alles leicht, gerade das Schwere?

Es ist Michel Piccoli als frisch gewählter und plötzlich von Panik ergriffener Papst, der diesen Film zum Ereignis macht. Vor seinem Auftritt auf dem Balkon des Petersdoms erkennt der Kompromisskandidat, dass er der Aufgabe nicht gewachsen ist - und flieht tagelang unerkannt aus dem Vatikan. Piccoli wärmt die Rolle des fundamental erschütterten Alten, der vorsichtigen Schritts sein Menschsein wiederentdeckt, mit sanfter Würde. Moretti dagegen, der als Psychoanalytiker den Papst fit machen soll für die Allmacht, dröhnt im Vatikan zeitraubend als Organisator eines Volleyballturniers herum. Diese Bescheidenheit des Regisseurs: Fast möchte man sie Absicht nennen.

Auch ein anderer Großmeister, Gus van Sant, spielt, in "Restless", mit den Grenzbereichen zwischen Komödie und Tragödie. Enoch (Henry Hopper) und Annabel (Mia Wasikowska) scheinen zu jenem Typ von Jugendlichen zu gehören, die eine bloß gänsehautfördernde Affinität zum Tod entwickeln: Als Trauertouristen lernen sie sich beim Begräbnis fremder Leute kennen. Bald aber stellt sich heraus, dass Enoch seine Eltern bei einem Verkehrsunfall verlor und er selber drei Monate im Koma lag. Und die schöne Annabel hat wegen eines Hirntumors nur noch drei Monate zu leben.

Eine geniale, mittelspäte Szene führt den Zuschauer aufs Glatteis: Sollten auch die zu Tränen rührenden Bedingungen dieser Schicksalsgemeinschaft, die zwangsläufig in Liebe mündet, nur gespielt sein? Irrtum, "Restless" funktioniert, garniert mit allerlei übersinnlichen Erscheinungen, als romantisches Märchen für ganz junge Seelen, das tatsächlich von der bemessenen Zeit zweier junger Liebender erzählt. Gus van Sant tut das hier einmal nicht mit dem Sinn für die möglichst exakte Ergründung seines bevorzugten Soziotops, sondern mit allem Pathos, das sein Sujet zu verlangen scheint - fernab vom nüchternen Beobachterblick, der "Elephant" auszeichnete oder, zuletzt, "Paranoid Park".

Die richtig komische, anrührende und zugleich absolut schmachtfetzenfreie Liebesgeschichte ist der Eröffnung der Nebenreihe Quinzaine des réalisateurs vorbehalten - in "La fée" von Dominique Abel, Fiona Gordon und Bruno Romy, wobei die Erstgenannten auch die Hauptrollen spielen. Dom, einsamer Nachtwächter in einem Einsterne-Hotel in Le Havre, bekommt eines Nachts Besuch von einer Fee namens Fiona, die ihm drei Wünsche freistellt. Zwei weiß er gleich: ein Moped und Benzin auf Lebenszeit. Ein dritter fällt dem so bedürfnislos Glücklichen nicht ein. Darauf Fiona: "Lass dir Zeit."

Ein Running-Gag-Dialog mit Tiefe, und dazwischen tobt mal ein himmelhochjauchzendes Geschehen auf dem Flachdach oder ein abgrundtiefes in einem Aquarium, das auch das Meer sein könnte oder umgekehrt. "La fée" hat stets die Lakonie und augenblicksweise die Melancholie von Aki Kaurismäkis Filmen, drängt aber mächtig ins Helle, wobei zur Beförderung der höchst absonderlichen Love-Story auch süße Hunde und lustige Babys auf der Castingliste nicht fehlen. Und die Haupdarsteller? Sie wirken wie die Zwillingsgeschwister von Roberto Benigni und Tilda Swinton, nicht gar so hübsch, aber viel, viel wilder.

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