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Auf Anfang

© MFA

"Auf Anfang": Weil wir spielen

So frisch und klug wie „Jules und Jim“: Joachim Triers fulminantes Debüt „Auf Anfang“. Das Geheimnis des Films: Er schert sich scheinbar nicht weiter um seine Zuschauer.

Nein, dieser Film gehört nicht zu jenen Tausenden, die ihre Geschichte brav von Anfang bis Ende erzählen; vielleicht mit der noch abenteuerlichsten Abweichung, dass der Schluss am Anfang steht und das eigentliche Geschehen als lange Rückblende daherkommt, bis wir endlich am Schluss, pardon, wieder am Filmanfang angekommen sind. Hauptsache, schön chronologisch ansonsten das alles, und wenn wir unser Tellerchen nicht aufgegessen haben, gibt’s morgen kein schönes Wetter.

Nein, dieser Film fängt im Konditional an – und hört auch im Konditional auf. Dann springt er stracks in seine Mitte und sammelt Erzählfäden aus der Vergangenheit, um sich einer Art Zukunft entgegenzuhäkeln, springt und springt und springt. Damit wir die Übersicht behalten, gibt’s den allwissenden Voice Over; und damit wir die Übersicht nicht behalten, wird ihm schon mal das Wort abgeschnitten. So wie den Personen: Nicht immer zeigt die Kamera sie da, wo wir sie gerade vermuten, und nicht immer bewegen sich ihre Lippen, wenn wir sie reden hören. Und manchmal rauscht das Meeresrauschen von vorhin gleich durch die nächstbeste Schreibstubenszene.

So, jetzt sollten wir unter uns sein: unter den Hardcore-Dekonstruktostrukturalisten, unter jenen seligen Masochisten des Kunstgenusses, die auf seriöse Expositionen und saubere Handlungsverläufe pfeifen und erst im Chaos Durchblick gewinnen. Und, siehe da, wer loslässt, reist wie im Traum. Denn „Auf Anfang“, der großartige Erstling des Norwegers Joachim Trier mit einem Halbdutzend famoser Erstlingsschauspieler, ist eigentlich ein ganz einfacher Film. Sein Geheimnis: Er schert sich scheinbar nicht weiter um seine Zuschauer, sondern funktioniert wie eine zärtlich-lässige, elliptische Erinnerung unter Freunden. Gerade deshalb lädt er uns ein.

„Prosopopeia“ heißt der Roman, mit dem der junge Erik (Espen Klouman Hoiner) erstmals als Schriftsteller bemerkt wird, und Prosopopeia, eine allenfalls Schrift-Gelehrten geläufige rhetorische Formel, heißt Lebendigmachen von Materie, Vermenschlichung, Personifikation. Mal bei den Wikingergöttern nachgefragt: Könnte es sein, dass das Zelluloid dieses Films eine Seele hat? Und dass er selber, eigentlich pure Materie, geradezu schmerzhaft fühlbar Jugend vergegenwärtigt, herumalbernde, sehnsüchtige, ziellose, ernsthafte und traurigtrunkene, weil unabweisbar vergehende Jugend – und dass er auch deshalb immer wieder Kapriolen schlägt gegen das Prinzip Chronologie?

„Phantombilder“ heißt der Roman, mit dem Eriks Freund Phillip (Anders Danielsen Lie) ein paar Monate vor Erik die schmale literarische Bühne Norwegens betritt, aber nach ein paar Monaten reißt es Phillip in eine Psychose, und als er aus ihr wiederauftaucht, ist Schluss mit dem Schreiben. Nein, nie ist Schluss mit dem Schreiben, es bleiben die Bilder und bleibt das Phantom. Immer kommt ein früher Morgen nach einer durchlachten Nacht, und der Schreibtischdrehstuhl wird zur sanften Sänfte, die Bögen rucken leise aus dem Drucker, und später könnte man das Geschriebene seinem besten Freund, nennen wir ihn Erik, zu lesen geben. Und Erik sagt die Wahrheit, ohne die Wahrheit zu sagen.

Zwei Freunde also (drei weitere, kindlich und komisch unbeweibte, kommen hinzu), Freunde aus Kindertagen. Und weil diese norwegischen Wiedergänger von Jules und Jim Schriftsteller sind, findet sich eine Charlotte ein, nur dass sie hier Kari heißt (bzw. Viktoria Winge, die sensationellste Sensation dieses sensationellen Debüts) und – ein unglaubliches Lächeln abgezogen – eindeutig zu Phillip gehört, vor der Psychose und nach der Psychose und nur ganz früher anderswohin. Da war sie mit einem Punk-Gitarristen zusammen, bis Phillip kam und das Glück und was man so macht, wenn man sich total verliebt: gestern der erste Blickwechsel in der Bibliothek und heute zusammen nach Paris!

Haben Kari und Phillip damals in Paris in der zweiten oder erst in der dritten Nacht miteinander geschlafen? Das sind so Fragen. Fragen, die sie sich in der tiefsten Mitte des wirbelnden Geschehens stellen: auf einer zweiten, herzzerreißenden Vergewisserungsreise. Phillip fragt: Und was haben wir dann gemacht? Und Kari sagt es ihm. Knappe Dialoge werden das, die da wie für immer geschrieben stehen. Und dann inszenieren sie ihre Vergangenheit zwischen Verwegenheit und Verlegenheit, sie tun es und sie tun es doch nicht, weil die Zeit nicht bleibt und am wenigsten diese seltsame Prosopopeia, die uns Zellhaufen zu füreinander entflammten, beseelten Wesen macht. Und auch die Stadt – ein leeres Café, eine Metro in der Nacht, ein Hotelzimmer, aus dem ein Duft verschwindet – hat sich ein Gespensterhemd übergestreift und ist einfach auf und davon.

Es gibt auch einen alten Schriftsteller, Sten Egil Dahl (Sigmund Saeverud), für den Erik und Phillip schwärmen. Und weil es einmal heißt, Phillip leide am Sten-Dahl-Syndrom, dürfen Romanisten unter den Kinogängern an den Romancier Stendhal denken, nur führt auch diese Assoziation nicht besonders weit. Ein Spiel, wie alles. Ein Spiel mit den riesigen Hoffnungen, so lange die Welt im Konditional vor einem liegt. Und mit der Ernüchterung, weil man sich ja doch mit ihr einlassen muss. Seltsame Literaturbetriebsnudeln gibt es da plötzlich, Manager, Exfreunde, Abschiede, Hochzeitstorten, die anzuschneiden wären, so’n Zeug eben. Und wenn gar nichts mehr geht, dann mit geschlossenen Augen um den Block taumeln und von zehn bis null zählen wie Phillip. Und gleich wieder an die Kasse, einmal Happy Anfang bitte.

Zusehen im fsk und Hackesche Höfe (beide OmU).

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