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Die Besetzung des Films "Holy Motors" mit Regisseur Léos Carax (3. v. r.)

© dpa

Bilanz des Filmfestivals von Cannes: Ich bin neun andere

Solider Jahrgang, düstere Filme: eine Bilanz des 65. Filmfestvals von Cannes

Wer sind die Stars auf der Croisette? Nicole Kidman, möchte man meinen, und Brad Pitt natürlich, Kristen Stewart und Robert Pattinson und andere mehr, wenn sie auf den Stufen zum Festivalpalast vor den Profikameras paradieren. Nicht minder aufregend aber - für die Knipsgeräte der Pfingsttouristen - sind die Edelporsches und erst recht die Ferraris, die tags wie nachts über den palmengesäumten Boulevard röhren. 

Und wer sind die Stars auf der Leinwand? Die Stars, selbstverständlich. Neuerdings aber auch die Stretchlimos. Ja, folgt man den Spektakel-Spekulationen kurz vor Festivalende, ist ihnen zumindest die Goldene Lenkradpalme gewiss. Draußen mögen die zwölfzylindrigen Zehnmeterschiffe eher beschwerlich von schmalen Seitenstraßen in die Strandpromenade einbiegen, in Cinemascope aber sehen sie einfach umwerfend aus.

Zunächst setzte Léos Carax den trägen Luxus-Alligatoren unter den Automobilen ein cineastisches Denkmal. Programmatisch „Holy Motors“ heißt sein erster Film seit „Pola X“ (1999) und sein zweiter seit „Die Liebenden von Pont-Neuf“ (1991); entsprechend riesig waren die Erwartungen an ein neues Skandalwerk des Regisseurs, der einst die französische Filmförderung und auch sich selbst fast in den Ruin trieb. Das mittlerweile 51-jährige (bitte kursiv:) enfant terrible erfüllt die Hoffnungen insofern, als es Publikum und Kritik spaltet: Die einen rufen einmal mehr das Genie aus, die anderen halten „Holy Motors“ schlicht für Scharlatanerie.

Im Fond der von einer – Romanisten, aufgepasst! - gewissen Céline (Edith Scob) chauffierten Langlimousine sitzt Oscar, offenbar ein Wirtschaftsboss. Oscar aber ist, frei nach Rimbaud, an diesem überlangen Tag neun andere, und während das Auto quer durch Paris fährt, verwandelt er sich als sein eigener Maskenbildner unter anderem in eine Bettlerin, einen Mörder, der gewalttätig zu Tode kommt und wiederaufersteht, einen Greis sowie einen Familienvater, der abends zu Affenfrau und Affenkind heimkehrt. Die Stretchlimo ihrerseits übernachtet in einer Halle für Stretchlimos, wo sich Stretchlimos mit Stretchlimos, neckisch mit den Rücklichtern blinkend, in den Schlaf reden.

Wegen solcher und anderer Pointen – Hinweise auf Webseiten etwa zieren die Grabsteine eines Friedhofs – wird Carax von den einen nun als Fellini des 21. Jahrhunderts gefeiert, andere sind wegen zahlreicher Zitate, zurück bis zu Bewegungsstudien aus den Frühzeiten des Stummfilms, beglückt über den Bewahrer des kinematografischen Erbes. Man darf die originalitätssüchtige Szenenfolge, angereichert durch so bedeutungsschwangere wie inhaltsleere Dialoge, aber auch schlicht albern finden. Hinzu kommt, frappierend bei einem derart schmalen Werk, das lustvolle Bad im thematischen Selbstzitat – und natürlich spielt Denis Lavant, der Klaus Kinski des französischen Kinos, wieder die Hauptrolle.

Unter den zahlreichen Referenzen im Presseheft, von Borges über Bataille bis Kafka und E.T.A. Hoffmann, fehlt nur Don DeLillo. Dessen Roman „Cosmopolis“ (2003) dürfte Carax nicht entgangen sein – zumal den coolen Helden des Buchs ein einziges Lebensrätsel umtreibt: Wo zum Teufel, fragt sich der 28-jährige Devisenspekulant und Multimilliardär, parken nachts all die Stretchlimos? Ganz einfach, in „Limos only“-Garagen. Und in seiner Romanverfilmung lässt David Cronenberg das Fahrzeug des Eric Packer (Robert Pattinson) am Ende eines ebenfalls überlangen Tages völlig schnickschnackfrei darin verschwinden.

Geschlossene Räume dominieren die Fiktionswelt des Festivals

Cosmopolis“ fragt nicht demonstrativ tiefgründig wie „Holy Motors“ nach der multiplen Wesenhaftigkeit menschlicher Identität oder gar, ziemlich spätbarock, nach dem irdischen Dasein als Traum, sondern antwortet mit entwaffnender Simplizität. Eric Packers Leben ist ein Albtraum an Sinnleere, nicht erst an diesem Tag, wo er sein Vermögen, seine frisch angetraute Gattin und schließlich sein Leben verliert. Und schuld daran ist wer allein? Der Turbo-Kapitalismus. Das schöne Auto übrigens leidet auch ein bisschen – verunziert durch Graffiti von Globalisierungsgegnern, die zur Globalisierung gehören wie das Gelbe zum Ei.

Beide gleichermaßen ergebnisöde Filme besaßen immerhin genug Schlüsselreize, um die Festivaliers zu erneuten Deutungsmühen herauszufordern. Vor allem aber enthalten sie eine prächtige Metapher für die im materiellen wie im übertragenen Sinn geschlossenen Räume, die die Fiktionswelten dieses 65. Festivals von Cannes dominierten. Stretchlimos sind Festungen, die man weder für den Sex noch fürs Business noch zum Arztcheck noch zum Pinkeln verlassen muss. Sie bieten den Insassenschutz des Kokons ebenso wie den  Kontakt zur Welt – und passen perfekt zum modern vernetzten Menschen, der Kommunikation und Konsum erledigt, ohne sich von der Stelle zu rühren.

Festungen sind auch Schauplatz der beiden stärksten Festivalbeiträge. In Michael Hanekes makellosem Meisterwerk „Amour“ verlässt ein altes Paar, das sich auf den Tod vorbereiten muss, seine Pariser Wohnung nicht mehr – und der Zuschauer empfindet die Räume bald als so vertraut wie seine eigenen. Christian Mungius „Beyond the Hills“ spielt in einem  rumänischen Kloster, und auch hier führt das Drama des Lebens und der Liebe zu einer Implosion. Die eine befreit, die andere zerstört: Was aber die Menschen zu ihren finalen Taten antreibt, lässt sich weniger durch psychologische Kausalität erklären, sondern erinnert eher an physikalische Reaktionen in einer Druckkammer.

Vor der Undurchschaubarkeit immer krisenhafterer Verhältnisse sucht der Mensch Zuflucht in Gehäusen, die ihn ersticken: Ist das die absurde Nullsumme, die man aus den Filmen diesem Cannes-Jahrgangs ziehen muss? Auch Abbas Kiarostami baut in seinem japanischen Ausflug „Like Someone in Love“ den Mythos von der Unverletzlichkeit der Wohnung auf, um ihn dann mit einem Knalleffekt zu zerstören. Oder „The Taste of Money“ des Koreaners Im Sang-soo: Hier herrscht eine steinreiche Matriarchin in ihrem Designer-Palast so eisern über Familie und Domestiken, dass sich bald die Leichen in Badewanne und Pool häufen.

Aufzeichnungen aus Totenhäusern, wohin man blickt. Geht es ins sogenannte Freie, sieht der Befund nicht viel besser aus. „Im Nebel“ des in Berlin lebenden Ukrainers Sergei Loznitsa – sein Spielfilmdebüt „Mein Glück“ lief vor zwei Jahren in Cannes – spielt komplett im Wald, 1942, in Weißrussland. In langen Einstellungen, ganz ohne Musik, schildert er eindrucksvoll den Leidensweg des Partisanen Souchenia (Vladimir Svirski), der nach einem Anschlag anders als seine Kampfgenossen von den Deutschen nicht gehenkt, sondern freigelassen wird. Jeder hält Souchenia für einen Verräter, da mag er sich noch so untadelig verhalten. Die Besatzer selber spielen dabei Gott und Teufel zugleich - als Auslöser einer Rache-Tragödie, in der die Partisanen ebenso zu Instrumenten werden wie die Kollaborateursmiliz.

Und was ist mit dem Traumstrand in Ulrich Seidls „Paradise:Love“, wo kenianische Boys wie im Käfig unter freiem Himmel um die finanzielle Gunst weißer Frauen buhlen? Und in welche Sümpfe Floridas driftet „The Paperboy“, der südstaatenträge Thriller von Lee Daniels („Precious“) immer tiefer hinein? Nicole Kidman spielt, aufgeputzt wie ein Pinup-Girl, die Brieffreundin eines Mannes, den die Recherchen ehrgeiziger Provinzjournalisten aus der Todeszelle holen. Doch nichts ist, wie es scheint in „The Paperboy“, die Freiheit am allerwenigsten.

An diesem Sonntagabend entscheidet die Jury über einen insgesamt soliden Wettbewerb. Ihr Präsident Nanni Moretti steht für das – in diesem Jahrgang wenig präsente – politisch sinnhafte Kino, andere Mitglieder des schillernd zusammengesetzten Gremiums, dem sogar Modeschöpfer Jean-Paul Gaultier angehört, halten es womöglich eher mit den besonders bunten Bildern. Wer die Palme bekommt? Was bleibt, bleibt sowieso.

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