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CITY Lights: Von Fräuleins und Orgien

Erinnerung an wechselvolle Jahrzehnte: Frank Noack gratuliert dem Babylon Mitte.

Am 28. März 1929 wurde im Staatlichen Schauspielhaus am Berliner Gendarmenmarkt Theatergeschichte geschrieben. Das lag nicht am Stück, Frank Wedekinds „Der Marquis von Keith“, auch nicht an der Inszenierung, sondern an der Besetzung. Neben Heinrich George verzeichnete der Programmzettel über 80 prominente Darsteller, darunter Asta Nielsen, Marlene Dietrich, Conrad Veidt, Fritz Kortner, Veit Harlan und Kurt Gerron. Bei der Gedenkveranstaltung für den Schauspieler Albert Steinrück wurde Geld für dessen Witwe gesammelt. Eine weitere, inoffizielle Gedenkveranstaltung folgte am 11. April: Da wurde das Babylon Mitte mit Paul Czinners Fräulein Else eingeweiht. Das stumme Melodram erlebt jetzt zum 80. Geburtstag des Kinos eine Wiederaufführung (Dienstag). In der Titelrolle die zarte, knabenhafte Elisabeth Bergner: Sie verkörpert die Tochter eines verschuldeten Anwalts und Albert Steinrück einen reichen Kunsthändler, der ihr Geld geben will, wenn sie sich vor ihm auszieht. Schon bei seinem ersten Auftritt ist Steinrück furchterregend kraftvoll. Im Speisesaal starrt er Else herausfordernd an, dabei zerschneidet und verschlingt er ein Stück Fleisch. Ludwig Marcuse schwärmte: „Nur Albert Steinrück, der jetzt tot ist, lebt in diesem Film.“

Vier Jahre später sah Deutschland anders aus. Doch erst die Sexwelle der siebziger Jahre brachte ein Genre hervor, das von den Feuilletons damals schamhaft verschwiegen wurde: Nazisploitation. Inspiriert durch seriös gemeinte Filme wie „Der Nachtportier“, die den Faschismus sexualpathologisch zu erklären versuchten, entstand hemmungslose Nazi-Kolportage mit Titeln wie „SS-Girls“, „Die letzte Orgie der Gestapo“ oder „Mein Kock“. Diese Machwerke waren zu dilettantisch, um Kontroversen auszulösen. Russ Meyers „Up!“ (1976), in Deutschland unter dem Titel Drunter, drüber und drauf verliehen, ist wenigstens filmtechnisch professionell und handelt von einem Liebespaar, das für den Hitler-Doppelgänger Adolf Schwartz Sadomaso-Sitzungen veranstaltet (Mittwoch, Babylon Mitte). Geschmacklosigkeiten werden mit einem Augenzwinkern präsentiert. Auch das Kino der niederen Instinkte hat seine Berechtigung. Es bringt Schmutz an die Oberfläche, dessen Existenz man nicht einmal ahnte.

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