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Claude Chabrol: ''Ich bin schon seit langem Feminist''

Der Regisseur über Macht, Dekadenz, Puritanismus und das neue Prekariat

Monsieur Chabrol, Sie gelten als freizügig. Warum zeigen Sie in Ihrer erotischen Dreiecksgeschichten mit Ludivine Sagnier so wenig nackte Haut?

Ich finde Sexszenen langweilig, weil man dabei immer dasselbe sieht: Die Kamera fährt an den nackten Körpern entlang, und dann gibt es eine Nahaufnahme des stöhnenden Kerls und des stöhnenden Mädchens. Ich will Anziehung und Begehren zeigen, ohne auf die klassischen Bilder zurückzugreifen. Ich finde es heikel, Schauspieler Sex mimen zu lassen. Wenn sie wirklich Sex haben, landet man beim Porno. Dieses Genre ist interessant, hat aber nichts mit dem Thema meiner Filme zu tun. Ich wollte beim Sex nicht alles zeigen, sondern auf perverse Weise Dinge im Unklaren lassen. So kann der Zuschauer sich ausmalen, was mit Gabrielle alles angestellt wird.

Spielt in „Die zweigeteilte Frau“ die Anziehung zwischen Jung und Alt eine zentrale Rolle, weil es um eine Art Handel geht?

Schon immer gab es diesen Tausch zwischen Jugend und Macht, zwischen den Körpern und dem Geld, aber mich interessierten diesmal eher die psychologischen Aspekte. Das erotische Interesse der jungen Gabrielle für den viel älteren Schriftsteller Charles Saint Denis hängt damit zusammen, dass sie keinen Vater hat. Junge Frauen, die nur mit einer Mutter groß wurden, versuchen oft, mit wesentlich älteren Männern zu leben. Der Altersunterschied kann, muss aber dabei nicht zum Problem werden.

In Ihrem Film stellen Sie die Frage, ob die französische Gesellschaft eher dekadent oder puritanisch ist ...

Sie ist puritanisch und dekadent zugleich. Wir leben in einer Epoche des Übergangs. In den USA waren beide Strömungen lange Zeit gleich stark, aber mittlerweile überwiegt die puritanische Mentalität bei weitem. Beides ist eng miteinander verbunden, denn strenger Puritanismus ruft sofort Dekadenz auf den Plan.

Schätzen Sie die von Ludivine Sagnier gespielte karrierebewusste Wetterfee Gabrielle, weil sie sich in einer Machogesellschaft durchsetzen will und sich dabei trotzdem eine gewisse Unschuld bewahrt?

Gabrielle gefällt mir so, weil sie im Gegensatz zu allen anderen Figuren nicht mit der Lüge lebt. Für ihre Aufrichtigkeit wird sie einen hohen Preis bezahlen, aber dieser Offenheit verdankt sie letztlich auch ihr gesellschaftliches Überleben. Ich beobachte viele junge Frauen von heute, die wie Gabrielle unglaublich charmant und lebendig sind. Ihnen gelingt es, sich, auch ohne kultiviert zu sein, ein interessantes Leben aufzubauen. Und das, obwohl die französische Gesellschaft die weibliche Emanzipation immer ziemlich argwöhnisch betrachtet hat. Ich fühle mich seit langem als Feminist und halte es mit Louis Aragon: Die Frau ist die Zukunft des Mannes.

Warum drehen sich Ihre Filmen oft um Klassengegensätze?

Seitdem die Berliner Mauer gefallen und die Sowjetunion zerbrochen ist, hat sich das Proletariat als eigene Klasse aufgelöst. Es gibt keine „strahlende Zukunft“ des Sozialismus mehr. Heutzutage dominiert in Europa die Bourgeoisie. Alle am Rand der Gesellschaft Lebenden träumen davon, in die Mittelklasse aufzusteigen, und daher kommt es zu Konflikten. Die Emporkömmlinge erkämpfen sich ihren Platz, aber die Armen können nur reich werden, indem sie innerhalb des kapitalistischen Systems Geld verdienen. Ich finde diese Entwicklung beunruhigend. Meine Filme behandeln nicht den Klassenkampf, sondern mein Unbehagen an der vom Geld regierten Gesellschaft.

Was ist denn an die Stelle des Proletariats getreten – das Prekariat?

Wenn Sie so wollen, spricht man heute nicht mehr von der Unterschicht, sondern von Arbeitslosen und Obdachlosen. Das eigene Dach über dem Kopf ist eine bürgerliche Idee, und die Wohnung wird gerade jetzt zum Schlüsselbegriff unserer Gesellschaft. In Frankreich werden selbst die unteren Schichten gerade unter einem Präsidenten wie Sarkozy dazu getrieben, sich ein Eigenheim zuzulegen. Andererseits muss man sich auf dem Arbeitsmarkt immer flexibler zeigen, den Job je nach Bedarf schnell wechseln können. Wer keine langfristigen Berufsperspektiven hat, muss öfter umziehen, sein Haus verkaufen. Also ist die bürgerliche Stabilität des Eigenheims nur vorgegaukelt. Dieser Kreislauf ist diabolisch, denn der versprochene soziale Aufstieg steht nicht allen offen. Ich fürchte, dass unser wirtschaftsliberales Gesellschaftssystem daher eines Tages explodieren wird.

Nehmen Sie die bourgeoise Elite aufs Korn, weil Sie deren Macht gefährlich finden? Wie gehen Sie selber mit Macht um?

Macht ist die Möglichkeit, Einfluss auf das Leben der anderen zu nehmen. Mein Beruf bietet für kurze Zeit in einem genau abgesteckten Rahmen absolute Macht. Wenn Präsident George W. Bush den Rasen des Weißen Hauses blau streichen ließe, würden die Leute ihm den Vogel zeigen. Ich dagegen kann als Regisseur bei den Dreharbeiten die Realität nach meinen Wünschen gestalten. Habe ich also mehr Macht als der amerikanische Präsident? Ich muss mich jedenfalls nicht an Macht berauschen. Denn sie ist nicht real.

Das Gespräch führte Marcus Rothe.

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