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Trägt einen Nazi-Basher in sich. Als Kind im KZ traumatisiert, bevorzugt Erik Lehnsherr alias Magneto (Michael Fassbender) aggressive Weltrettungsstrategien.

© Tw. Century Fox

Comicverfilmung: X-Men: Nur wer mutiert, bleibt sich treu

Im Kino löste das Heldenkollektiv einst eine Welle neuerer Comicadaptionen aus. Das Action-Prequel "X-Men: Erste Entscheidung" schickt die Superhelden nun zurück auf Los.

Superhelden sind schwer zu fassen, das war schon in den klassischen Heftserien so. Kaum hat man verstanden, wie einer funktioniert, wie er aussieht, sich bewegt – da kommen neue Autoren oder Zeichner ins Spiel, erfinden neue Gegner und Konflikte, sogar Körper und Gesichter für die Typen. Ein Spider-Man von Steve Ditko sieht anders aus als einer von Todd McFarlane, und manche Charaktere haben öfter die Seiten gewechselt als Madonna ihre Haarfarbe. In ein derart flexibles Geschöpf musste sich das Blockbusterkino irgendwann verlieben: All die smarten Franchise-Techniken, die Sequels, Prequels, Spin-offs, kann man mit Superhelden prima durchexerzieren – und die Fans leben bestens damit.

So haben auch Marvels X-Men, die ihre sehr speziellen Kräfte wilden, durch Strahlung ausgelösten Genmutationen verdanken, einiges mitgemacht: einen ersten eher erfolglosen Lauf in den Sechzigern, ein goldenes Zeitalter mit dem legendären Autor Chris Claremont, die Verzweigung in Seitenlinien, den hypertrophen Stil der Comicneuzeit, eine TV-Serie. Im Kino löste das Heldenkollektiv Anfang des Jahrzehnts unter Bryan Singers Ägide eine Welle neuerer Comicadaptionen aus; schon im dritten Film freilich war nach einem Wechsel auf dem Regiestuhl die ruppige Energie der Serie in einem blinden Actionspektakel verpufft. Und der ausgekoppelte „Wolverine“ steckt in der Krise.

Nun also die ganze Geschichte von vorn, mit hippen jungen Schauspielern, die ihre Spandexanzüge tragen, als wär’s der Street-Style der Saison: „X-Men: Erste Entscheidung“ ist ein regelrechter Neustart, wie Christopher Nolans „Batman Begins“ und „Star Trek“ von J. J. Abrams. Während freilich Nolan und Abrams mit derselben Unbekümmertheit verfuhren, die unsere Regierung in der Atomfrage zeigt – mir egal: ich mach das jetzt so –, ist das X-Team um Singer und den neuen Regisseur Matthew Vaughn beinahe rührend um innere Kontinuität bemüht.

Selbst wenn sich das Drehbuch von etablierten Storylines entfernt und verschiedene X-Men-Jahrgänge gemischt werden, insistiert der Film auf dem, was stets den Reiz der Mutanten ausmachte: ihrem Appeal als Außenseiter, die kaum Interesse daran haben können, eine Gesellschaft zu schützen, in der sie zur „Rasse“ gestempelt, diskriminiert, verfolgt werden. Die Mutation ist bei den X-Men keine Privatsache – die Welt, in der sie leben könnten, müsste sich erst einmal selbst verwandeln. Oder mutiert werden.

Wandel durch Annäherung, Martin Luther King, Gandhi und so – oder bewaffneter Kampf? Das ist der Konflikt, den in den Originalfilmen zwei ältere Herren – Patrick Stewart als Professor Charles Xavier und Ian McKellen als Erik Lehnsherr aka Magneto – austrugen. Nun stehen die beiden, gespielt von James McAvoy („Abbitte“) und Michael Fassbender („Hunger“), am Beginn ihrer Heldenlaufbahn und müssen zunächst die Fronten klären.

Dabei verwendet „X-Men: Erste Entscheidung“ interessanterweise mehr Leidenschaft darauf, die aggressive Strategie des schillernden Antihelden Magneto zu motivieren als die sozialdemokratische von Professor X. Das fängt an mit einem Rekurs auf die Urszene der amerikanischen Comic-Kultur überhaupt: die Geburt des Superhelden aus dem Grauen des Genozids. Der Mutant Erik Lehnsherr, der als Kind im KZ den Mord an seiner Mutter mitansehen muss, weil es ihm nicht gelingt, seine noch unentwickelte Kraft einzusetzen, ist wie Superman eine jüdische Fantasie: ein Überlebender, den seine fantastischen Fähigkeiten buchstäblich unantastbar machen – und der alles daran setzt, zu verhindern, dass ES wieder geschieht. Im Unterschied zu Superman trägt Magneto freilich einen „Inglourious Basterd“, einen Nazi-Basher, in sich.

Die erste Begegnung von Erik und Charles projiziert der Film in einem hübschen Coup – die Serie ist sonst nicht so konkret – auf den Hintergrund der Kubakrise. Da mischen nicht bloß Sowjets und US-Amerikaner mit, sondern auch Kevin Bacon als Megamutant und Bond-Schurke. Um seine Weltherrschaftspläne zu vereiteln, treten Erik und Charles in den Dienst der CIA und bilden eine Truppe junger Superhelden aus. Die kommen zwar mit ihrem Alltag nicht zurecht, haben aber weit mehr Spaß in ihrem exotischen Job als die oft zerquälten Kollegen aus anderen Serien: Wenn die Schüler Energiebällchen schleudern, heulend übers Meer fliegen oder allgemeine Verwüstung anrichten – Havok! –, dann genießen sie ihre Könnerschaft, und die Inszenierung bekommt etwas Triumphales.

Die Naivität dieser Anfänger und das Pathos des Aufbruchs prägen den ganzen Film. Matthew Vaughn, der zuletzt mit der Comicadaption „Kick-Ass“ einen Sinn fürs Ironische und Unkorrekte zeigte, entscheidet sich hier für die direkte Strategie, für klare Farben und Linien wie in den frühen, von Stan Lee und Jack Kirby kreierten X-Men-Heften. Obwohl es eine Menge Space-Age-Dekor, grelle Outfits und Technikkrempel gibt, wirken die Bilder aufgeräumt. Die Action hat ihre drastischen Momente, ist aber in moderatem Tempo montiert und eher sparsam zwischen lange Passagen gesetzt, in denen sich die Seifenopern entfalten können, die für die X-Men so charakteristisch sind wie die große Politik.

Das zentrale Drama schließlich, das Stewart und McKellen noch mit Nebensätzen in gepflegtester britischer Bühnendiktion erledigten, wird von McAvoy und Fassbender an die Oberfläche gehievt. Da ist viel Leidenschaft im Spiel, und es kann sein, dass der Superheld auch einmal weint. Das alles gibt dem Film eine fast klassizistische Anmutung; größere visuelle oder erzählerische Experimente leistet er sich nicht. Aber vielleicht waren die auch nicht nötig - vielleicht genügt es, in den X-Men wieder eine gewisse Dringlichkeit aufzuspüren. Denn die sind ohnehin zeitgemäßer und sympathischer als der bourgeoise Batman: Kinder der Gegenkultur, Blüten des liberalen Marvel-Sumpfs der Sechziger und Siebziger, Schwarze, Schwule und Frauen im Kampf um Anerkennung, Hippies, Pubertierende und Comicfans, multikulturell und polymorph.

Der Film trägt das manchmal dick auf: Das Motto „mutant and proud“ verkündet die von Jennifer Lawrence („Winter’s Bone“) gespielte Mystique mit dem Megafon, und der Mutant Hank, in dem sich ein „Beast“ verbirgt, wird versehentlich zwangsgeoutet. Dabei könnten sich die Autoren auf die Virulenz des X-Men-Themas eigentlich verlassen – in Zeiten der politischen Polarisierung, da westliche Gesellschaften wieder beginnen, sich gegen Zuwanderer abzuschotten und essenzialistischer Quatsch die Ratgeberliteratur, den Boulevard, die Talkshows beherrscht.

Bei den X-Men ist jeder seine eigene Spezies, wenn zwei beliebige es tun, ist es immer gleich eine „Mischehe“, und egal, ob einer rückwärts redet, Fangzähne trägt oder ein blaues Fell – er wird reingelassen.

Vielleicht kommt es, im Franchise wie in der Welt, eines Tages ja doch noch zu einem echten evolutionären Sprung. Im Abspann des Films tanzen Chromosomen in Pastellfarben über die Leinwand – mal schauen, was die nächste Mutation bringt.

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