zum Hauptinhalt
Red_Road

© fugu-films

Dogma-Projekt: Dr. Schäuble, übernehmen Sie!

Dogma, revisited: "Red Road" von Andrea Arnold aktiviert den dänischen Zehnpunkteplan.

Noch einmal Dogma, das ist schön. Das vielgeschmähte dänische Selbstbeschränkungsmanifest von 1995, längst selber Filmgeschichte, hat schließlich ein paar grandiose Werke hervorgebracht – und selbst die mittleren waren oft noch aufregend genug. Da ist ein Nachschlag willkommen, zumal mit dem Produzenten Gillian Berrie einer der Neuinitiatoren verspricht, alle guten Dogma-Zutaten seien wieder dabei, „nur die schlechten haben wir weggelassen“.

Nun, eine Handkamera, meistgehasstes Dogma-Requisit, agiert in Andrea Arnolds Debüt „Red Road“ durchaus, und sie tut dies in den Händen von Robbie Ryan mit geradezu entspannter Meisterschaft. Ansonsten sind die Regeln weniger filmtechnischer als inhaltlicher und struktureller Natur. In dänisch-schottischer Zusammenarbeit entstehen drei gleich lange Low-Budget-Filme von drei Erstlingsregisseuren. In den in Schottland siedelnden Filmhandlungen spielen neun Schauspieler jeweils dieselben Figuren – biografisch-psychologisch skizziert von den dänischen Dogma-Filmern Lone Scherfig und Anders Thomas Jensen. Und Schluss mit Puzzle, die Story ist frei.

„Red Road“ führt in einen totalen Fürsorgestaat aus der Traumfabrik des Dr. Schäuble, in dem die Polizei möglichst schon vor dem Verbrechen am Tatort eintrifft: Hunderte von Überwachungskameras in Problemkiezen machen’s möglich. Und das stets wachsame Auge der Angestellten von „City Eye Control“, die in der Zentrale an riesigen Monitorwänden jederzeit auffällige Bewegungen im Straßenbild heranzoomen und über beträchtliche Distanzen verfolgen können. Eine ganz besonders Zuverlässige aus dem mit Blauhemd und Schwarzschlips uniformierten Personal ist Jackie (Kate Dickie): Ihre aufmerksamen Augen fokussieren unermüdlich die Bildschirminformationen, und wird es brenzlig, greift sie zum Telefon.

Der Blick der Beobachterin fesselt den Blick des Betrachters von Anfang an – und speist den Film mit jener stillen Spannung, aus der er seinen tiefsten Reiz bezieht. Streng chronologisch schreitet das schmale Geschehen voran, zunächst bloß der Alltag einer allein lebenden, nicht mehr ganz jungen Frau, die merkwürdigerweise einen Ehering trägt und sich mit einem verheirateten Mann regelmäßig zu mäßig erquicklichen Quickies im Auto trifft. Einer Frau auch, die sich von den Kollegen mit dem rituellen Hinweis ins Wochenende verabschiedet, sie sei ein „party animal“, nur fährt sie stets in ihr lebensleeres Zuhause.

Dann aber ist doch Party, ganz anders als gedacht. Plötzlich entdeckt sie auf einer der Überwachungsscreens einen Mann, mit dem sie eine Rechnung offen hat, und sie wird ihn – draußen in der analogen Wirklichkeit – zu jagen beginnen. Die Party, es gibt da auch noch ein paar andere Leute neben Clyde (Tony Curran), findet statt im 24. Stock eines windumtosten Hochhauses in der Glasgower Plattenbausiedlung „Red Road“. Aber ja, die Party gelingt, sehr sogar, und zugleich geht sie schrecklich daneben.

Auch der Film strapaziert den Zuschauer mit zunehmender Länge bald abseits seines schönen Vorsatzes, behutsam in ein rätselhaft versperrtes Leben hineinzuleuchten. Seine dramaturgische Klimax wäre bei einem Hyperrealisten wie Lars von Trier zumindest ästhetisch glaubwürdiger aufgehoben gewesen, und die in den finalen Tableaus angestrebte große sozialfamiliäre Anrührung erinnert eher unvorteilhaft an die Vorbilder Ken Loach und Mike Leigh. Immerhin bleibt „Red Road“ zumindest stilistisch beim Prinzip Sprödigkeit, da mag das Drehbuch aus der Feder der Regisseurin noch so sehr Kapriolen schlagen.

In Cannes hat „Red Road“ vor zwei Jahren den Preis der Jury gewonnen – eine Auszeichnung für die britische Debütantin wohl ebenso wie eine Ermutigung für das späte, erneut vielversprechende Dogma-Projekt. „Rounding Up Donkeys“ des Schotten Morag McKinnon ist fast fertig, der Däne Mikkel Norgaard lässt sich für seine Variante des Menschenpuzzles noch ein bisschen Zeit. Hauptsache, wir spielen.

Filmkunst 66, fsk Oranienplatz (OmU)

Zur Startseite