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Moral Crimes

© Festival

Dokumentarfilmwoche: Gegen die Angst

Das Leipziger Dokumentarfilmfestival schaut nach Afghanistan. Viele der auf dem Festival gezeigten Arbeiten wären ohne materielle Unterstützung aus dem Westen kaum möglich gewesen.

Die Eröffnung ist ein Geniestreich. Hautnah umkreist die Kamera eine Gruppe von Fanatikern, besessenes Glühen in flackernden Augen, ein Plan, ein Anschlag, das World Trade Center. So könnte, so muss es gewesen sein, damals - am 7. August 1974. Denn James Marshs Film "Man on Wire", mit dem das 51. Dokumentarfilmfestival Leipzig eröffnet, handelt nicht von den Anschlägen des 11. Septembers, sondern vom wohl spektakulärsten Hochseilakt aller Zeiten. In einer Nacht- und Nebelaktion hatte der französische Artist Philippe Petit ein Drahtseil zwischen die Dächer des World Trade Centers gespannt, auf dem er in 417 Metern Höhe eine knappe Stunde lang vor den Augen entgeisterter New Yorker balancierte, bevor die Polizei ihn verhaftete.

Obwohl die spätere Zerstörung des World Trade Centers in Marshs Film mit keinem Wort erwähnt wird, ist der Terror des 11. Septembers in jedem Bild geisterhaft präsent - zumal bei einem Festival, das sich explizit den Auswirkungen dieses Anschlags widmet, da es den Dauerkrisenherd Afghanistan ins Zentrum einer Sonderreihe rückt. Als Strategie der "Ent-Ängstigung" in Zeiten weltweiter Krisen will Festivalleiter Claas Danielsen nicht nur diesen Programmschwerpunkt, sondern die gesamte Filmauswahl verstanden wissen: "Was könnte gegen diffuse Ängste besser helfen", heißt es in seiner Eröffnungsrede mit Verweis auf Finanzkrise, Hunger, Kriege und Heimatverlust, "als die unmittelbare Konfrontation mit ihnen?"

Afghanistan also. Ein Land, das bis vor gar nicht langer Zeit "genauso oft eine Revolution produzierte wie einen Film", wie der "International Film Guide" einmal schrieb. Fast alle der gut zwanzig in Leipzig vorgestellten Arbeiten afghanischer Filmemacher setzten sich denn auch mit den gewaltsamen gesellschaftlichen Umbrüchen auseinander, die das Land seit Jahrzehnten in Atem halten: russische Besatzung, Bürgerkrieg, Taliban-Diktatur, internationale Intervention, schließlich die Machtkämpfe der Gegenwart und das Ringen um Normalität in einem von Gewalt dominierten Alltag.

Für die Filmemacher ist, wie in Leipzig bald klar wurde, dieses Ringen nicht allein politischer Natur: Von den auf dem Festival gezeigten Arbeiten konnten viele nur durch materielle Förderung und anleitende Unterstützung westlicher Medieninitiativen zustande kommen. Dass dies so löblich wie problematisch ist, zeigten die Publikumsdebatten am Rande der Vorführungen: Mehr als ein afghanischer Diskutant warf die Frage auf, was ein westlich überformter Blick in der Auseinandersetzung mit der afghanischen Realität überhaupt leisten könne. Nicht alles, aber einiges, so die erwartbare Antwort der Festivalkuratoren. Und tatsächlich: Mochte auch bei manchen Filmen die Übersetzungsleistung auf Kosten der Unmittelbarkeit gehen, mochte bei anderen die Bildsprache so fremd bleiben, dass das dargestellte Leid fern und unteilbar wirkte, so meisterten einige Beiträge doch eindrucksvoll den Spagat zwischen den Welten. Manija Gardizis Film "Moral Crimes" etwa, der die Insassinnen eines afghanischen Frauengefängnisses porträtiert. Da schildern Frauen schicksalsergeben, wie sie hinter Gittern landeten, weil sie sich einer arrangierten Ehe widersetzten. Bedauernd darf dann ein Scharia-Berater des Obersten Gerichtshofs erklären, dass solche Urteile eigentlich nicht nur der Landesverfassung, sondern auch dem Koran zuwiderlaufen - bloß setze sich in einem Land mit mehrheitlich analphabetischer Bevölkerung nun mal leichter die regionale Brauchtumsüberlieferung durch als der Buchstabe des Gesetzes.

Ein Gefängnisfilm sollte auch im internationalen Wettbewerb glänzen. Die "Goldene Taube" des Festivals ging an Helena Tÿeštíkovás Beitrag "René", der kurz zuvor bereits mit dem Europäischen Filmpreis ausgezeichnet worden war. Tÿeštíkovás verstörende Langzeitstudie begleitet über zwanzig Jahre hinweg einen Dauerdelinquenten, der sein Leben von frühester Jugend an mehrheitlich in Gefängniszellen fristet. Die Parallelsetzung jener schmerzlichen Reifungsprozesse, denen auf beiden Seiten der Gitterstäbe der Protagonist wie das im politischen Umbruch befindliche Land ausgesetzt sind, lieferte dabei eine Textur, die in Leipzig für mehr als einen Film charakteristisch sein sollte. Die Übersetzung des Politischen ins Private: War es das, was Danielsen mit "Ent-Ängstigung" gemeint hatte? Dieser Strategie jedenfalls verschrieb sich auch Heddy Honigmanns niederländischer Beitrag "El Olvido", ausgezeichnet mit der "Silbernen Taube", in dem der Präsidentenpalast der peruanischen Hauptstadt Lima zum Lebensmittelpunkt eines komplizierten Geflechts kleiner Dienstleister wird.

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