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DVD-Rezension: Die Könige der Favela

"City of God", der Film über die Armenviertel von Rio de Janeiro, war ein atemloser Ritt durch die Vorhölle. Mit der TV-Serie "City of Men", die in Deutschland auf DVD erscheint, zeichnen die gleichen Regisseure ein differenzierteres Bild.

Die erste Episode von "City of Men" beginnt mit einer Geschichtsstunde. Schulkinder sitzen im Halbdunkel, die Lehrerin zeigt Dias mit Kupferstichen aus den napoleonischen Kriegen. Der portugiesische König flieht, von einer britischen Eskorte geschützt, in die Kolonie Brasilien und nimmt seinen Hofstaat mit. "Was hatte Napoleon für Waffen", will der zwölfjährige Acerola wissen, "eine Luger, eine Wood, eine AR15?" Auf seinen Block kritzelt er portugiesische Segelschiffe, in seiner Fantasie werden sie lebendig und feuern Kanonenkugeln über das Papier. Dann geht das Licht an. Die Lehrerin kündigt eine Klassenfahrt zur portugiesischen Krone nach Pétropolis an. Nur wer 6 Real 50 auftreiben kann, darf mitfahren. Acerola will eigentlich nicht mit, lässt sich aber von seinem Kumpel Laranjinha überreden, der im Bus mit Kelly knutschen will.

In der folgenden halben Stunde dreht sich alles um diese 6 Real 50. Für die beiden Jungen, die in einer Favela von Rio de Janeiro wohnen, ist das viel Geld. Nicht so für die Drogenhändler, die das Armenviertel beherrschen. Der brasilianische Staat hat hier nichts zu sagen, obwohl der Slum nur wenige Blocks von den Vierteln der Reichen entfernt liegt. 2003 gewährte uns der Film "City of God" bereits einen Blick auf diese Parallelwelt. In videoclip-artiger Ästhetik entwarfen die Regisseure Fernando Meirelles und Kátia Lund ein Panorama von Armut, Drogen und Gewalt. Das Besondere: Meirelles und Lund zeigten die Lage im Slum "Cidade de Deus" einmal nicht aus der Perspektive von Sozialarbeitern, sondern verzichteten auf jegliche Bewertung und machten sich konsequent die Perspektive der Protagonisten zu Eigen. Der Film wurde mit Bewohnern unterschiedlicher Favelas besetzt, die im Vorfeld Schauspielunterricht erhalten hatten.

"City of God" war in den Kinos der Welt ein Riesenerfolg. Außerhalb Brasiliens ist jedoch kaum bekannt, das neben dem Film auch noch eine TV-Serie mit vier Staffeln gedreht wurde, die ebenfalls auf dem Buch "Cidade de Deus" von Paulo Lins basiert. "City of Men" ("Cidade dos Homens"), so der Titel der Serie, ist in Deutschland bis jetzt nur auf DVD erhältlich, die dritte Staffel ist gerade erschienen. Inzwischen haben einige Videotheken die ersten beiden Staffeln im Angebot.

Über die Grenze

Zwischen Film und Serie gibt es eine Reihe von Unterschieden. "City of God" spannte seine Handlung von den 60er bis in die 80er Jahre. "City of Men" spielt im Rio der Jahrtausendwende. Der Schauplatz der Serie wurde näher an die Stadtmitte verlegt, in die Favelas "Santa Marta" und "Rocinha". Sie liegen an einem Berghang direkt oberhalb des weltberühmten Strandes von Ipanema. Das Leben der Protagonisten spielt sich nicht mehr nur in der Favela ab, sondern auch in den angrenzenden Bezirken der Reichen und des Mittelstandes. Um zur Schule zu gelangen, müssen Acerola und Laranjinha täglich diese Grenze überqueren.

Sowohl Douglas Silva (Acerola) als auch Darlan Cunha (Laranjinha) haben bereits in "City of God" mitgespielt. Douglas Silva war "Löckchen", der schon als Zehnjähriger zum Massenmörder wurde und den Kinogängern wohl die meisten Schocks verpasste. In "City of Men" ist er ein Teenager, der voller Ideen steckt, wie sein Kumpel Laranjinha den Mädels hinterher rennt und eigentlich nichts mit den Bandenkriegen zu tun haben will. Doch in den Favelas ist es fast unmöglich, zwischen den Fronten neutral zu bleiben. Banden fordern Loyalität, Acerolas ältere Schwester gibt sich mit einem Gangster ab, und Laranjinha vergnügt sich mit der Freundin des obersten Drogenbosses. Die Freunde hetzen von einer prekären Situation in die nächste und müssen einander ständig aus der Patsche helfen.

Samba, Hiphop, Denkblasen

Meirelles' innovative Bildsprache verleiht "City of Men" einen unwiderstehlichen Drive. Mit wackeliger Handkamera folgt er den Protagonisten durch das Häusergewirr der Favela, friert Bilder ein, beschleunigt sekundenlang auf Zeitraffertempo und lässt Denkblasen aufpoppen. Der Soundtrack, eine Mischung aus Samba, Funk und HipHop, passt sehr gut zu diesem Bilder-Stakkato.

Die Serie vermittelt ein differenziertes Bild der brasilianischen Gesellschaft, als es der Film in immerhin 130 Minuten zeigen konnte. Die 30-minütigen Episoden bieten abgeschlossene Handlungen und sind untereinander nur locker verbunden. Laranjinha und Acerola besuchen den Präsidenten Lula in der Hauptstadt Brasilia, legen ein Straßenverzeichnis für die Favela an oder mischen sich am Strand von Ipanema unter die Reichen und Schönen. Hier, am Strand, verschwinden für kurze Zeit die Klassenunterschiede der brasilianischen Gesellschaft. Meirelles zeigt die Reichen als die eigentlich Armen, denn sie müssen sich in streng bewachten Wohnblocks vor der Realität des Landes verstecken.

Dass die vom brasilianischen Sender TV Globo ausgestrahlte Serie in allen Gesellschaftsschichten gleichermaßen erfolgreich war, lässt zumindest hoffen, dass die Abschottung nicht mehr ganz so perfekt funktioniert. Dem Film wurde noch vorgeworfen, er verstärke die Favela-Klischees von Drogenkonsum und Gewalt. Aber mit der Serie scheinen Meirelles und Lund dazugelernt zu haben. Das Serienformat hat ihnen die Möglichkeit gegeben, eine Vielfalt von Geschichten zu erzählen.

Auch in der gerade auf Deutsch erschienen dritten Staffel hasten unsere beiden Helden von einem Abenteuer zum nächsten. Sie sind jetzt zwei Jahre älter und müssen sich mit ganz neuen Problemen herumschlagen. An dieser Stelle soll nichts davon verraten werden. Nur so viel: Der Kauf lohnt sich.

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