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El sistema: Wenn der Sturm losbricht

Wo Dudamel anfing: "El sistema" ist eine mitreißende Dokumentation über Venezuelas Jugendorchester. Paul Smaczny und Maria Stodtmeier erzählen mit sensiblen Blicken von dem Klassikwunder.

Große, dunkle, strahlende Kinderaugen. Für ihre Dokumentation „El sistema“ haben Paul Smaczny und Maria Stodtmeier mit der Kamera sensibel Blicke eingefangen, die vom venezolanischen Klassikwunder erzählen. Hoch konzentriert sitzen die Kids hinter ihren Notenpulten, die Geige unters Kinn geklemmt, die Trompete im Anschlag. Knisternde Spannung in der rappelvollen Turnhalle – da bricht Tschaikowskys „Pathétique“ los. Laut, stürmisch, leidenschaftlich. Die nackten Betonwände, das Neonlicht, die stickige Enge sind vergessen, das ganze Orchester hebt ab, lässt sich von der eigenen Begeisterung fortreißen, weit weg, dahin, wo es keine Armut gibt, keine Elendsquartiere, keine Bandenkriege und korrupten Polizisten.

1975 hat der Dirigent und studierte Wirtschaftswissenschaftler José Antonio Abreu in Caracas das erste Jugendorchester Venezuelas gegründet, mit zwölf Halbwüchsigen, denen er durch die Musik beibringen wollte, wie man friedlich zusammenleben kann. Und diese verwegene Idee vom KlassikEnsemble als Schule des Lebens, als Herzensbildungsanstalt ist seitdem tatsächlich zu einem nationalen Projekt geworden. Fast 300 000 Minderjährige erhalten in Venezuela derzeit kostenlosen Musikunterricht. Sie erzählen den Dokumentarfilmern aus Deutschland voll Stolz von ihrem neuen, verrückten Leben. Und von dem Spaß, den man haben kann, wenn sich alle diszipliniert verhalten.

Von der großen Karriere, wie sie einigen gelungen ist, dem international herumgereichten Dirigenten-Shootingstar Gustavo Dudamel oder Edicson Ruiz, der heute als Kontrabassist bei den Berliner Philharmonikern spielt, träumen die wenigsten. „El sistema“, das weltweit größte Educationprojekt, will nicht massenweise arbeitslose Profimusiker heranziehen, sondern schlicht und ergreifend bessere Bürger. Darum ist der Unterricht auch genau entgegengesetzt zum alteuropäischen akademischen Denken aufgebaut: Erst kommt das Gemeinschaftserlebnis, dann die Technik. Schon die Allerkleinsten sitzen gemeinsam auf der Bühne, als Papierorchester mit Instrumenten aus bemalter Pappe. Können sie dann eine echte Flöte, ein echtes Horn halten, spielen sie sofort im Kollektiv los, egal, wie krumm und schief es sich anhört.

Sechs Tage in der Woche gehen die Nachwuchs-Instrumentalisten direkt von der Schule in ihre „nucleos“, wie die 270 Kulturzentren im ganzen Land heißen. Smaczny und Stodtmeier sind ihnen dabei auf den Versen, zeigen den harten Kontrast zwischen der Realität in den Barrios und der Geborgenheit im Orchester, lassen die stolzen Kinder zu Wort kommen – und die dankbaren Eltern, die heilfroh sind, dass jemand ihren Nachwuchs vor dem Herumlungern in den unsicheren Gassen abhält. In bewegenden, oft virtuos auf die Musik geschnittenen Bildern erzählt diese Dokumentation von einem naiven Traum, der gegen jede Logik tatsächlich Wirklichkeit geworden ist.

Central, Delphi, International, Neue Kant Kinos, Rollberg (alle OmU)

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