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© Clemens Bilan / ddp

Europäischer Filmpreis: Vorwärts in die Vergangenheit

Die Altmeister feiern sich, Stars glänzen durch Abwesenheit: Die Gala zum 22. Europäischen Filmpreis in Bochum

Letztes Mal habe er den Preis zu unfreundlich entgegengenommen, hatte es 2005 geheißen. Nun gibt sich der erfolgsverwöhnte Grantler Michael Haneke größte Mühe, Freude über die höchste europäische Ehrung zu zeigen, dankt brav der Filmakademie und seinen begnadeten Kinderdarstellern und bekennt: „Ich sehe zwar nicht immer so aus, aber ich freue mich wirklich.“ Doch am meisten, das zumindest kommt von Herzen, freut er sich über den Drehbuchpreis. Den hat er noch nie bekommen.

Dass Michael Hanekes schon in Cannes prämierter Film „Das weiße Band“ auch beim Europäischen Filmpreis in der Bochumer Jahrhunderthalle der große Gewinner sein würde, daran hatte kaum jemand gezweifelt. Zu wuchtig, zu kompromisslos, zu überragend gefilmt ist seine Ballade von Macht und Seelenverkrüppelung in einem norddeutschen Dorf kurz vorm Ersten Weltkrieg, als dass eine der Filmkunst verschworene Akademie daran vorbeigekonnt hätte. Und dass seine „deutsche Kindergeschichte“ als deutsch-österreichisch-italienisch-französische Koproduktion auch noch im besten Sinn ein europäischer Film ist, hat wohl auch nicht geschadet. Die drei wichtigsten Preise holt „Das weiße Band“, nur Kameramann Christian Berger, ohne dessen souverän komponierte Schwarz-Weiß-Bilder Hanekes Meisterwerk nicht denkbar ist, unterliegt dem Kollegen Anthony Dod Mantle. Der hatte, mit Lars von Triers „Antichrist“ und Danny Boyles „Slumdog Millionär“, gleich zwei geradezu konträre Filme im Rennen und wurde für diese Vielseitigkeit zu Recht gefeiert.

Michael Haneke zeigt auch anderweitig Vielseitigkeit. Vor vier Jahren, mit „Caché“, war er als französischer Gewinner gefeiert worden. Nun schmückt sich, auch in Sachen Kandidatur für den Auslandsoscar, Deutschland mit dem „Weißen Band“ – zum Leidwesen von Hanekes Heimat Österreich. Doch an diesem Gala-Abend in der „Metropole Ruhr“, wie sich das Ruhrgebiet im Vorgriff auf die Europäische Kulturhauptstadt 2010 vollmundig präsentiert, spielen nationale Fragen einmal keine Rolle. Da wird Spanisch und Polnisch, Französisch und Englisch, Niederländisch und Deutsch parliert, zumeist ohne Übersetzung, und gerade die heimatsprachüberschreitenden Wagnisse geraten zu den schönsten, eindringlichsten Momenten: Wenn Volker Schlöndorff – als Ersatz für den kurzfristig verhinderten Ben Kingsley – in souveränem Französisch Isabelle Huppert für ihr Lebenswerk ehrt, und Fußballlegende Eric Cantona in ebenso fließendem, wenn auch kräftig akzentuiertem Englisch seinen Regisseur Ken Loach als letzten Idealisten lobt. Wenn sich die polnische Schauspielerin Krystyna Janda zu Ehren ihres Regisseurs Andrzej Wajda, der für „Tatarak“ den Preis der Filmkritiker-Vereinigung Fipresci bekommt, die englische Laudatio von ihrem Sohn in Lautschrift notieren lässt, und die wie immer aufgekratzte Moderatorin Anke Engelke sich zwar mühsam durch einige französische Sätze hangelt, dafür aber das Auditorium zum vielsprachigen „Stille Nacht“-Singen animieren will.

Ach ja, die Performance. Etwas verstolpert, wenn auch, der Live-Übertragung geschuldet, deutlich straffer als in den vergangenen Jahren war die Verleihung in der mit Feuerwerk dramatisch illuminierten Industriekathedrale. Hinzu kam, dass – wie so oft beim Europäischen Filmpreis – sich die großen Stars einfach entschuldigen ließen. So fehlten mit Charlotte Gainsbourg, Penélope Cruz und Kate Winslet gleich drei nominierte Aktricen, ebenso Pedro Almodóvar und Lars von Trier. Engelkes Kommentar: „Diese Schauspielerinnen können alles spielen. Heute spielen sie unsichtbar. Und wenn Sie, liebes Publikum, sie nicht sehen, dann ist das Ihr Problem.“

Dass Kate Winslet, für ihre Rolle im „Vorleser“ schon Oscar-prämiert, auch noch den Europäischen Filmpreis bekommt – allzu erwartbar auch das. Umso ansteckender die Freude des jungen Tahar Rahim, den die Akademie für seine Performance als kleinkrimineller Gefängnisinsasse in „Un prophète“ ehrte. Es sei sein erster Preis überhaupt, bekannte Rahim glücklich, und endete mit einem Jubelruf: „Es lebe das europäische Kino.“

Es ist ein Kino, das sich diesmal auffällig oft den Unterdrückten widmet: jugendliche Analphabeten und Underdogs von Mumbai bis Essex, verzweifelte Kindervampire aus Schweden, mindestens so verzweifelte Dorfkinder aus Norddeutschland. Dass in allen nominierten Filmen Kinder- und Jugendliche im Zentrum stehen – zeigt das womöglich, dass das europäische Kino so jung wie zukunftsfähig ist?

Mitnichten. An diesem Abend in der Bochumer Jahrhunderthalle ist deutlich mehr 20. als 21. Jahrhundert spürbar. Über den rostenden Dächern der ehemaligen Industriehalle liegt, schwer wie die Abendfeuchte, die Melancholie eines absehbaren Niedergangs, passend zur Aura einer Industrieregion, die sich eher angestrengt als kultureller Magnet präsentieren will. Auch der Glanz um Wajda und Loach, um Wenders und Schlöndorff, um Isabelle Huppert und Hannelore Elsner illuminiert ein Kino der Vergangenheit. Auch die Akademie selbst hatte mit ihrem Votum für Haneke dem Kino der Zukunft eine Absage erteilt: Weder Langfilmdebütantin Andrea Arnold mit ihrer Coming-of-Age-Geschichte „Fish Tank“ noch Jacques Audiard mit „Un prophète“ hatten große Chancen. Und so leidet dieses europäische Familientreffen, das immerhin die osteuropäischen, zumindest die polnischen Kollegen so souverän integriert, doch unter einem dramatischen Nachwuchsproblem.

Auch das Pre-Opening mit Ken Loachs „Looking for Eric“ am Abend zuvor in Essens historischer Lichtburg hatte etwas Demonstratives – ebenso wie jüngst die Entscheidung der Berlinale, das kommende Festival in den Berliner Kiez expandieren zu lassen, um ein Zeichen für die Überlebensnotwendigkeit der Kinos zu setzen. Denn dass das europäische Kino, mögen seine Filme noch so lebendig sein, an der Kasse eher tot ist, beklagt nicht nur Akademiepräsident Wim Wenders, der eine politische Beschränkung des freien Marktes zugunsten von mehr europäischer Filmpräsenz einfordert. Auch der für sein Lebenswerk geehrte Ken Loach klagt, die meisten der neu ausgezeichneten Filme kämen in den meisten Ländern nie ins Kino. Dass just an dem Abend, an dem Fußballfan Ken Loach mit Standing Ovations zu Tränen gerührt wird, der Traditionsverein VFL Bochum beim Heimspiel 5:1 unterliegt – auch das schmerzt die „Metropole Ruhr“. Auf der Rückfahrt mischen sich melancholisch-nachdenkliche Film- und schwer enttäuschte Fußballfans.

Christina Tilmann

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