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Jan Schulz-Ojala, Filmkritiker des Tagesspiegels, berichtet in seinem Festival-Tagebuch aus Cannes.

© Mike Wolff

Filmfest Cannes: Das Mysterium Kino obsiegt

Die Poesie setzt sich durch beim 63. Filmfestival von Cannes - mit der Goldenen Palme für Apichatpong Weerasethakul aus Thailand an der Spitze. Alles Politische und Plakative ließ die Jury unter Tim Burton außen vor.

Schöner kann man es nicht sagen als der sanft strahlende Sieger auf der Bühne, in einen schimmernd weißen Smoking mit weißer Fliege gekleidet und selig lächelnd unter dem nahezu kahlrasierten Kopf. In seinen Dank schließe er alle "Geister aus Thailand" ein, sagt Apichatpong Weerasethakul, der erste thailändische Palmengewinner in der Geschichte des Festivals von Cannes. "Durch diesen Film weiß ich ein bisschen mehr, was Kino ist. Aber auch dann bleibt es ein Mysterium. Und das ist es doch, was uns immer wieder hier vereint."

Die Geister. Das Mysterium. Das Übernatürliche. Die Inspiration. Die Kunst. All das durchweht die Gedankenwelt dieses erst 39-jährigen Bilderpoeten, der in zehn Jahren bereits sechs Filme gedreht hat - für "Tropical Malady" bekam er 2004 in Cannes den Jury-Preis. In "Lung Boonmee Raluek Chat" (Onkel Boonmee, der seine früheren Leben herbeiholen kann) erscheinen dem auf dem Land lebenden Boonmee, der in aller buddhistischer Seelenruhe dem Tod entgegengeht, die Geister seiner verstorbenen Frau und seines verschwundenen Sohnes - beide setzen sich umstandslos an den Tisch der Lebenden und sprechen mit ihnen. Und auf einer Reise in den Dschungel, die er bald darauf unternimmt, könnten eine Prinzessin, ein Büffel, ein Katzenfisch, ein gewaltiger Baum allesamt Inkarnationen seiner früheren Leben sein. Was ist da noch der Tod? Nichts weiter als eine Schwelle von den früheren zu den späteren Leben.

Mit ihrem feinen Preisregen hat die von Tim Burton angeführte, neunköpfige Jury konsequent jene Filme bedacht, die das Poetische, das Mysteriöse, die Transzendenz feiern. Filme, die durch den Zauber ihrer Bilder wirken und die oft auch narrative Leerstellen lassen, auszufüllen durch die Fantasie des Publikums. Alles simpel Lesbare, alles politisch oder historisch Gutgemeinte war ihr offenbar ein Greuel, alles Laute und Plakative ebenso. Womit schon mal die Hälfte des Wettbewerbs - seine schwächere - ausschied. Was bleibt, ist der Lorbeer für Leute, die etwas wagen. Und wenn sie dabei übers Ziel hinausschießen, na und? Keine Frage, diese Jury, der unter anderem die Schauspieler Benicio del Toro und Kate Beckinsale, der spanische Regisseur Victor Erice und Alberto Barbera angehörten (einige sehr gute Jahre war er Filmfestchef von Venedig), feiert die pure kinematografische Energie.

So ist Mathieu Amalric über seinen Regiepreis für "Tournee", die Geschichte der Lebenskrise eines Stripperinnen-Impresarios, ebenso erschüttert glücklich wie Juliette Binoche über ihren Schauspielerinnenpreis für "Copie conforme": Ihr Dank an den Regisseur Abbas Kiarostami gerät so innig, dass er einer Liebeserklärung gleichkommt. Und welch vitale Freude der Schauspielerpreis für Javier Bardem, der doch in Alejandro Gonzalez Inarritus gewaltig über die Ufer tretender Weltparabel so anrührend dem Tod entgegentreibt. Oder der glückliche Elio Germano, mitreißender Hauptdarsteller von Daniele Luchettis konzeptionell mäßigem Familiendrama "La nostra vita": Seinen Preis widmet er - kleiner Polit-Abstecher - "allen Italienern, die aus unserem Land das Beste machen, trotz der derzeit herrschenden Klasse".

Alles Poesie an diesem Abend - oder "Poetry", um mit dem Filmtitel des für sein Drehbuch geehrten Koreaners Lee Chang-dong zu sprechen. Am unumstrittensten dürfte der Große Preis der Jury für Xavier Beauvois' kristallklare Geschichte um das Schicksal einer Gruppe von Zisterziensermönchen im sich immer fundamentalistischer gebärdenden Algerien sein: "Des hommes et des dieux". Ja, von Menschen und Geistern und Göttern erzählen die nachhaltigsten Filme dieses Festivals; davon, dass es viele Götter gibt, und dass wir Menschen gut daran täten, sie allesamt gelten zu lassen. Natürlich zeugt die Wahl der Jury auch von der globalen Sehnsucht nach Transzendenz im postideologischen Zeitalter. Vor allem aber vom Geist eines Weltkinos, das - für zwölf kurze Tage in Cannes - alle Widersprüche in sich aufnimmt und allen Reichtum der Fantasie vereint.

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