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Bei Anruf Leben. Ryan Reynolds spielt in "Buried" einen im Irak lebendig begrabenen Amerikaner. Seine einzige Verbindung zur Außenwelt ist ein Handy.

© Ascot Elite

Filmfest Toronto 2010: Das Budget wird schmaler

Beim 35. Filmfestival in Toronto dominieren die US-Produktionen mit schmalem Budget. Dennoch tummelten sich die Stars reihenweise – von Clint Eastwood bis Keira Knightley.

Die Leinwand ist schwarz. Kohlrabenschwarz. Aus der dunklen Stille heraus hört man ein leises Atmen. Erst nach drei langen Minuten in der finsteren Verlorenheit des Kinosaals zunächst der Funke, dann die Flamme eines Feuerzeugs, die das spärliche Setting beleuchtet. Ein Mann, ein Sarg, dazu Stift, Taschenmesser, Feuerzeug und ein Handy – das sind die Utensilien, mit denen Rodrigo Cortés’ „Buried“ anderthalb Kinostunden bestreitet. Ohne je die Holzkiste zu verlassen, erzählt der Konzept-Thriller von einem amerikanischen Vertragsarbeiter, der im Irak von Freischärlern lebendig begraben wurde. Fünf Millionen Dollar fordern die Entführer, und der Begrabene (Ryan Reynolds) telefoniert sich mit wachsender Verzweiflung durch die politische Bürokratie. Endlose Warteschleifen, leere Versprechungen und schließlich sogar die Kündigung durch den Juristen der Dienstleistungsfirma werden hier zur riesengroßen Metapher für die Verlassenheit des Individuums gegenüber den Wirkungskräften der Weltpolitik.

Das Skript zu „Buried“, soeben beim 35. Filmfest in Toronto gezeigt, wanderte in den USA zwei Jahre lang von einer Produktionsfirma zur nächsten, bis der spanische Regisseur das waghalsige Unternehmen als spanisch-amerikanische Koproduktion realisierte. Während Hollywood in Krisenzeiten sein Geld in die Megabudgets vermeintlicher Blockbuster steckt, sind im Windschatten der Pleitegeier wieder kleine Produktionsfirmen entstanden, die mit bescheidenen Budgets und fantasievoller Finanzierung riskantere Projekte stemmen. Selten waren in Toronto, das als wichtigste Plattform für die Winterkollektion des US-Kinos gilt und den Startschuss für die Oscar-Rallye gibt, so wenige Studioproduktionen dabei.

Dennoch tummelten sich die Stars reihenweise – von Robert Redford, Clint Eastwood, Catherine Deneuve über Harvey Keitel, Kevin Spacey, Nicole Kidman bis zu Matt Damon, Ben Affleck und Keira Knightley. Hinzu kam die Eröffnung des Festivalhauses „Bell Light Box“, das für 196 Millionen Dollar nach achtjähriger Bauzeit fertig wurde und neben fünf Kinosälen auch zwei Galerien, Restaurants, Büros und in einen 45 Stockwerke hohen „Festivaltower“ zahlreiche Wohnungen beherbergt. Mit seiner zwanglosen Mischung aus cineastischem Anspruch und ökonomischen Notwendigkeiten beschreibt das Gebäude auch den Geist des Festivals, das Kunst und Kommerz nicht als Widerspruch begreift.

Das Programm mit über 300 Filmen wurde von kleinen Produktionen dominiert, die ihren Fokus auf überschaubare Sujets richteten. Selbst ein Regisseur wie Danny Boyle, der seinem Studio mit „Slumdog Millionär“ acht Oscars und ein Einspielergebnis von 141 Millionen Dollar bescherte, konzentriert sich auf eine kleine, klaustrophobische Geschichte. In „127 Hours“ erzählt er die Geschichte eines Freizeitkletteres (James Franco), der fünf Tage lang durch einen Gesteinsbrocken, der seinen Arm einquetschte, in einer Felsspalte festgehalten wird. Anders aber als „Buried“ befreit sich „127 Hours“ immer wieder – mit wilden Kamerafahrten durch die bizarren Berglandschaften Colorados – aus dem minimalistischen Setting und stellt im Rahmen des radikalen Einsamkeitserlebnisses das Leben ebenso grundlegend wie humorvoll in Frage.

Einen der stärksten Filme zeigt die Dänin Susanne Bier

Särge, Felsspalten und immer wieder Strafanstalten – die Helden des neuen amerikanischen Kinos, so scheint es, sind Gefangene, die aus dem rasanten Fluss der Zeitgeschichte herausgelöst und auf sich selbst zurückgeworfen werden. John Currans „Stone“ porträtiert zwei solche Gefangene dies- und jenseits der Knastmauern. Robert De Niro spielt den Gutachter, der sein ganzes Leben damit zugebracht hat, Häftlinge auf ihre Resozialisierungsfähigkeit zu untersuchen, bis ein Strafgefangener (Edward Norton) den Gewissensprüfer selbst auf eine harte Probe stellt. Ein präzise gearbeitetes Schauspielerduell um Schuld und Sühne, in dem das Wertgefüge des christlich-konservativen Mittelstandsamerikas auf den Prüfstand gerät und das Bedürfnis nach spirituellem Halt sehr unorthodox verhandelt wird.

In Tony Goldwyns „Conviction“ nimmt Hilary Swank als deklassierte Alleinerziehende sogar ein Jurastudium auf, um ihren zu Unrecht verurteilten Bruder aus dem Knast herauszuholen und auch Robert Redfords Historiendrama „The Conspirator“ spielt vornehmlich hinter Gefängnismauern. Redford rollt das Gerichtsverfahren gegen die Attentäter Abraham Lincolns noch einmal auf, in dem die Mutter (Robin Wright) eines mutmaßlichen Verschwörers zum Opfer einer voreingenommenen Militärjustiz wird. Das solide inszenierte Gerichtsdrama spiegelt sehr direkt die politischen und juristischen Vorurteilsmechanismen der Post-Nine-Eleven-Ära.

Konnte man im letzten Jahr mit Filmen wie „Up in the Air“ den Eindruck gewinnen, dass die amerikanische Unterhaltungsindustrie ihre Finger sanft an den Puls der krisengeschüttelten Zeit legt, waren die politischen Exkurse im diesjährigen Festivalprogramm rar. Selbst das Schicksal des wegen Alkoholismus entlassenen Verkaufsleiters (Will Farrell), der in Dan Rushs melancholischer Komödie „Everything Must Go“ eine Woche mit all seinen Habseligkeiten im Vorgarten kampiert, wird als individuelle Krise ohne zeitpolitische Verweise verhandelt.

Einer der stärksten Filme des Festivals war sicherlich Susanne Biers „In a Better World“ (Hævnen). Nach ihrem eher misslungenen Hollywood-Ausflug mit „Things We Lost in the Fire“ kehrt die dänische Regisseurin zurück in ihre Heimat und entwickelt ein Drama um zwei Jungen, die sich gegen das Mobbing ihrer Mitschüler gewaltsam zur Wehr setzen.

Extrem differenziert schlüsselt Bier die emotionale Gemengelage der Vorpubertät auf, erweitert den vorurteilsfreien Blick auf die Generation der Väter, denen die familiären Sicherheiten entgleiten und findet sogar den Weg in ein afrikanisches Bürgerkriegsland, in dem sich männliche Machtfantasien brachial entladen. In atemberaubend klaren Bildern untersucht „In a Better World“ die Mechanismen der Gewalt auf dem Schulhof, im Alltag, in kriegerischen Auseinandersetzungen und entwickelt daraus eine dramatische Wucht und analytische Schärfe, wie man sie im derzeit vor sich hin kriselnden amerikanischen Kino schmerzhaft vermisst.

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