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Jan Schulz-Ojala, Filmkritiker des Tagesspiegels, berichtet in seinem Festival-Tagebuch aus Cannes.

© Mike Wolff

Filmfestival Cannes: Auch die Cleveren sind mal dumm

jan@cannes, das Festival-Tagebuch: Christoph Hochhäuslers "Unter dir die Stadt" ist ein brillantes Sozio-Panorama der Frankfurter Bankenwelt. Nur mit der Liebesgeschichte, die im Zentrum steht, hapert es.

Alles weiß oder beige oder auch transparent, alles blassgrau oder dunkelgrau bis ins Braun und Schwarz. Alles Glas, alles Chrom, alles Beton. Alles sehr 21. Jahrhundert: Die Wohnungen sehen aus wie die Büros, die Sofas hier wie dort bloß in den Raum gestellte Klötze, innen ist außen ist innen, man tritt vom Job ins Private und umgekehrt ohne Schwelle. Alles sauber, aufgeräumt, sparsam möbliert, sogar die Straßen: Wie frisch gewischt liegen sie da im kalten Sonnenlicht, und ab rutscht der Blick an den Fassaden.

Das ist die Welt von "Unter dir die Stadt": Frankfurt von den Banktürmen aus gesehen, Frankfurt, Geld, Zukunft, Ungeduld. Das ist die Welt, wo Schreibkräfte bei Vorstandssitzungen mucksmäuschenstill den Raum verlassen bei der Ansage, "das muss jetzt nicht mehr ins Protokoll". Das ist die Welt, in der Banker sich bei Großraumbürofeiern zum Kollegenfoto versammeln und "Greed" rufen statt "Cheese", um die Zähne zu zeigen – Gier, Gier, Gier, die böse alte Wall-Street-Fanfare. Das ist die Welt des Roland Cordes, soeben zum "Banker des Jahres" gewählt. Eine Welt, in der die Vorstandsmitglieder von Großbanken hinter ihren Ganzglaswänden herumtigern, und hinter tausend Fenstern keine Welt.

Oder ist die Welt des Roland Cordes eine ganz andere, geheime, prekäre? Dass er sich in die Frau eines frisch eingestellten Mitarbeiters verliebt, ist nicht der erste Zwischenfall, der auf den Mr. Hyde im Alltags-Jekyll verweist. Cordes weidet sich zum Beispiel gegen viel Geld am Anblick von Junkies, wenn die sich einen Schuss setzen. Und nirgends bleibt ein Fingerabdruck am Plastikstuhl des Zuschauers zurück, der Chauffeur verwischt schon die Spuren. Oder Cordes sackt beim Kondolenzbesuch die Kinderfotos eines soeben in Indonesien ermordeten Untergebenen ein, hässliche Sache, dieser Mord, aber der muss jetzt nicht ins Protokoll. Und die Fotos: Wer weiß, wozu die noch gut sind, wenn einer ohne Leben sich mal eben eins erfinden muss.

Ja, das Setting von Christoph Hochhäuslers drittem Film nach "Milchwald" (2002) und "Falscher Bekenner" (2005), ist bezwingend. Und beklemmend aktuell. Und dort am stillsten, wo etwa "Wall Street 2" am meisten lärmt. Es gibt keine Broker und Daytrader in "Unter dir die Stadt", dem einzigen deutschen Beitrag in der Cannes-Nebenreihe "Un certain regard", sondern nur kleine Zirkel von Topmitarbeitern, die mit ausgefuchsten Expertisen mal eben Konkurrenten zur Strecke bringen, Übernahmen argumentativ und statistisch wasserdicht machen und dabei irgendwo 10.000 Arbeitnehmer hops gehen lassen. Gebrüllt wird hier nur, wenn einer allein im Fahrstuhl über seine Beförderung jubelt. Oder wenn der Obernebenunterchef, alles Taktik, den gleichen Mann dann doch fertig machen muss.

Christoph Hochhäusler.
Christoph Hochhäusler.

© dpa

Die Liebesaffäre zweier Verheirateter ist das einzige Problem des Films

Fast hätte ich's vergessen: die Liebe. Die Liebesaffäre zweier Verheirateter, die doch das Zentrum sein soll dieses bewusst vagabundierenden Films, ist das einzige Problem von "Unter dir die Stadt". Stemmen müssen sie Robert Hunger-Bühler als Cordes und Nicolette Krebitz als Svenja, und sie machen ihre irgendwie gemeinsame Sache tapfer. Sie gucken sich in die Augen, wie das Drehbuch es verlangt, sie sagen in langen Fluren auf dem Weg zu Hotelzimmern ihre Sätze auf, aber da ist keine Chemie zwischen den Beiden. Geschweige denn Physik. Nur Mathematik. Bestimmt soll das so sein. Frankfurt eben. 21. Jahrhundert. Alle Gefühle sind hier sofort kalt wie Stein, selbst die neuen.

Cordes also lässt seinen Untergebenen Oliver abschieben nach Indonesien, da ist bekanntlich gerade was frei geworden. Und Svenja, mit Oliver kaum zwei Monate durchaus nicht unglücklich in Frankfurt, wundert sich nicht? Cordes wiederum, ein Muster von Selbstkontrolle, eine Fassade von Mann, treibt sich ausgerechnet in Frankfurt mit Olivers Frau herum und stolpert über die dicksten Seile der Intrige, die er selbst ausgeheckt hat. Und sowas will Banker des Jahres sein? Klar, auch die Cleveren sind mal dumm, wenn's drauf ankommt. So dumm aber wohl auch wieder nicht.

Selbst wenn die Regisseure um Christian Petzold und Benjamin Heisenberg, Angela Schanelec und Maren Ade den Begriff nicht mehr hören wollen: Die Berliner Schule, zu der auch Christoph Hochhäusler zählt, hat es nach wie vor nicht so sehr mit Geschichten. Sie sind nur das notwendige Was eines Films, nicht das Wie und Warum, dem ihr ganzes Augenmerk gilt. So wirken ihre Arbeiten perfekt konzipiert, wunderbar anzusehen, auseinander zu nehmen und wieder zusammenzubauen. Auch in Sachen Liebe, sofern die Story sie verlangt, geht es ihnen meist wie den Kunden der Expertisen, über die Hochhäuslers Banker spotten: "Was die wollen, ist doch bloß die wissenschaftliche Bestätigung ihres Bauchgefühls." Bei aller Liebe zur Berliner Schule: Manchmal stört's.

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