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Jan Schulz-Ojala, Filmkritiker des Tagesspiegels, berichtet in seinem Festival-Tagebuch aus Cannes.

© Mike Wolff

Filmfestival Cannes: Tausendmal schockiert

jan@cannes, das Festival-Tagebuch: Jugendknastdrama und Teenie-Horrormovie: Zwei clevere Debüts mit bemerkenswerten Schnittmengen – Philip Kochs "Picco" und Fabrice Goberts "Simon Werner a disparu".

Er heißt Kevin, aber alle nennen ihn Picco. Kein Spitzname, der sich so rausstellt, weil er lustig ist und auch dem Spitzbenannten in den Kram passt. Nein, Typen wie Kevin nennen hier alle Picco, so lange kein anderer der Picco wird. Picco: Das ist der Neue. Damit fängt es an in Philip Kochs Debüt "Picco". Damit, dass man als erstes seinen Namen verliert im Jugendknast und stattdessen ein zerschabtes Etikett aufgeklebt kriegt, bis man es weiterpappen darf an den Nächstschwächeren. Denn Picco muss die Latrine in der Zelle putzen, Picco muss den Boden wischen, und wenn Marc ihm, haha, dick Spucke auf den Tisch rotzt, ist Picco nochmal dran.

Vier teilen sich die Zelle in diesem finsteren Druckkammerspiel, und sie sind zwischen 16 und 19 Jahre alt: Kevin (Constantin von Jascheroff), Tommy (Joel Basman), Andy (Martin Kiefer) und Marc (Frederick Lau). Marc ist der Böseste von allen, deshalb ist er hier der Chef. Draußen hat er ein Mädchen, dem er ein Kind gemacht hat, und drinnen vergewaltigt er die kleineren Jungs, während Kevin und Tommy Schmiere stehen. Wehe, wenn nicht, dann kriegen sie aber sowas von auf die Fresse. Es gibt Augenblicke in "Picco", da wird geredet wie in einer Jungs-WG. Bisschen grob, aber nicht wirklich schlimm. Und es gibt Augenblicke, da wird geredet, wie man im Internat redet oder beim Militär, in Anstalten also, aus denen man nicht ohne weiteres wieder rauskommt, weshalb sich in Nullkommanix üble Herrschaftssysteme herausbilden. Und es gibt die furchtbar langen Augenblicke am Ende, da fährt das Quartett gemeinsam zur Hölle.

Oder ist es Tommy, der vielleicht in den Himmel kommt, sofern es einen Himmel gibt – er ist schließlich das Opfer? Erst verbrennen die anderen den Brief, auf den er so lange gewartet hat, dann quälen sie ihn mit der Klobürste, dann wird geknebelt und gefoltert wie in Abu Ghraib. Und da Tommy schon einen Selbstmordversuch in den Akten hat, wie wär's, wenn er sich jetzt mal in echt erhängt, nur für uns drei und live? Ach, er will nicht? Dann hat Ex-Picco Kevin jetzt die Großchance zu zeigen, dass er nie, nie wieder ein Picco wird, in keinem Knast der Welt, hey, und der Knast ist die Welt.

Tritt für Tritt wird die Menschenwürde gebrochen

Philip Kochs Abschlussfilm an der HFF München, der einzige deutsche Beitrag in der Reihe "Quinzaine des réalisateurs", setzt ganz auf das Prinzip Steigerung. Darauf, wie Tritt für Tritt die Menschenwürde von Schwächeren gebrochen wird, womit allerdings auch die Starken – Kollateralschaden! – ihren eigenen Menschlichkeitsrest zerstören. An der Gewalt, die der Regisseur in kalten, entsättigten Farben inszeniert, weidet er sich nicht, sondern deutet sie als Folge der Zusammensperrung, der institutionellen Verwahrlosung in einem System, das die darin Überlebenden für immer zu Tätern macht. Viele deutsche Jugendknäste mögen moderner aussehen als das stillgelegte bayerische Gefängnis, in dem "Picco" gedreht wurde - aber sind die Strukturen so viel besser?

Nach diesem bösen Bolero wirkt "Simon Werner a disparu" (Simon Werner ist verschwunden), Fabrice Goberts Debüt im "Certain regard", wie ein harmloses Tennie-Horrormovie. Mit einer Party in einer gutbürgerlichen Pariser Vorstadt geht es los, und im Wäldchen nebenan, wo künftige Paare ihre erste Auszeit vom Gruppenzwang nehmen, wird nachts ein Junge tot aufgefunden. Simon fehlte schon ein paar Tage in der Schule, und bald kommen der Klasse weitere Kameraden abhanden.

Wie in "Picco" steht ein Figuren-Quartett im Mittelpunkt. Wobei die Vorgeschichte des Verbrechens – ein immer wieder anregendes dramaturgisches Prinzip – hintereinander aus den jeweiligen Einzelperspektiven erzählt wird, hübsche Ereignis-Schnittmengen inklusive. Der sanfte Jérémie (Jules Pelissier), die hübsche Alice (Ana Girardot), der coole Simon (Laurent Delbecque) und der Außenseiter Jean-Baptiste (Arthur Mazet) sind Teile eines Mikrokosmos, in dem jeder massiv durch den Begriff anderer von sich selbst definiert ist. Schule, das lehrt der Film nebenbei, ist zwar kein Jugendknast, aber sie führt auf ihre Weise zur Entindividualisierung.

Und die Deutungsfährten für das massenhafte Schüler-Verschwinden? Sie reichen vom jugendlichen Ausreißertum über Selbstmord bis Mord. Auch in Sachen Motivbaukasten darf das Publikum sich munter bedienen - von schlimmen Videospielen über den sexuellen Missbrauch bis zur bösen, alten Eifersucht. Tausendmal schockiert, und tausendmal ist nix passiert: Die Auflösung gerät so überraschend wie erfrischend.

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