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© promo

Filmfestival: Harter Brocken

Philipp Stölzls Bergsteigerdrama "Nordwand“ feiert Weltpremiere beim 61. Filmfestival von Locarno. Trotz massentauglicher Aufbereitung des Themas ist das Ergebnis gelungen.

Nächtliche 28 Grad auf der Piazza Grande in Locarno, majestätisch schwarz stehen die Berge um den See, in der Ferne leuchtet ein Feuerwerk, und auf der Riesenleinwand tobt ein Schneesturm. Atemlos verfolgen 8000 Zuschauer auf dem überfüllten Platz den letzten Kampf von Toni Kurz und Andi Hinterstoisser an der Eigernordwand. Der Samstagabend-Film, mit dem das Festival nach der Eröffnung am Mittwoch traditionell seinen zweiten Höhepunkt erlebt, ist diesmal kein US-Studioprodukt, sondern ein deutscher Film. Doch an Spektakelwerten hält „Nordwand“ mit Hollywood locker mit.

Es ist der richtige Film am richtigen Ort. Multitalent Philipp Stölzl, der nach dem Berliner Szenefilm „Baby“ seine zweite Filmarbeit vorlegt, wendet sich mit "Nordwand“ ungeniert an ein Massenpublikum. Ein Bergsteigerfilm allein locke vielleicht zu wenig Publikum an, war die Sorge der zahlreichen Produzenten und Financiers – wer sagt eigentlich, dass Frauen, die Marktforschungsinstituten zufolge in Paarbeziehungen die Filme aussuchen, nicht für Bergdramen zu gewinnen wären? Da muss noch Liebe rein, heißt also das chauvinistische Patentrezept.

Geschichte wird massentauglich aufgepeppt

So wird die Story um die gescheiterte Besteigung der Nordwand 1936, die in der Werbung als "wahre Geschichte“ verkauft wird, im Drehbuch heftig fiktionalisiert und massentauglich aufgepeppt. Mit einer herzzerreißenden Liebesgeschichte samt Showdown in der Nordwand, mit politischen Kommentaren auf die propagandistische Vermarktung der Erstbesteigung durch die Nazis und einem Soundtrack, der an dramatischen Wendepunkten tausend Geigen seufzen lässt (Musik: Mischa Krausz).

Doch es hat dem Film nicht geschadet. „Nordwand“ ist der große Massenfilm – wenn er im Oktober ins Kino kommt, wären weniger als 500.000 Zuschauer für die Verleiher ein Misserfolg, gibt Stölzl zu. Trotzdem ist der Film ein Wagnis mit der Handschrift eines leidenschaftlichen Cineasten. Das Drehbuch mag Kompromisse machen, die Kamera macht sie nicht. Kameramann Kolja Brandt ist selbst begeisterter Alpinist, und gefilmt wurde vor Ort in der Nordwand, bei schlechtem Wetter, bei Nebel. Oder im Kühlhaus, genauso strapaziös.

"Titanic" als Vorbild

Das Vorbild heißt "Titanic“. An James Camerons legendärem Riesenerfolg orientiert sich Stölzl unverhohlen. Auch er führt in "Nordwand“ eine junge Frau ein, Luise (Johanna Wokalek), eine angehende Journalistin aus Berlin, der er eine verhinderte Liebesgeschichte mit dem Bergsteiger Toni Kurz (Benno Fürmann) andichtet. Luise, die an die Nordwand geschickt wird, um von der Erstbesteigung zu berichten, ist die Beobachterin, mit deren Augen wir die Geschichte sehen. Sie überlebt und trägt die Erinnerung und Trauer weiter. Aus diesem Dualismus entsteht die Spannung des Films: Man ist, mit der atemberaubenden Handkamera von Kolja Brandt, mit den beiden Bergsteigern in der Wand – und gleichzeitig mit Luise auf der Terrasse des Hotels auf der gegenüberliegenden Kleinen Scheidegg, wo die Journalisten und Katastrophentouristen das Drama per Fernrohr live miterleben.

"Das ist ja wie beim Gladiatorenkampf“, sagt einer der Gäste auf der Terrasse. Da liegt schon eine Stunde Exposition hinter uns, in der sich die Gebirgsjäger Andi und Toni ins Berner Oberland aufgemacht haben, während man in Berlins Parteikreisen nach arischen Helden sucht, die sich im Jahr der Olympischen Spiele dem "letzten Problem der Alpen“ widmen. Dem Sieger winkt Gold, und auf die – historisch überlieferten – propagandistischen Untertöne legt Stölzl als Sohn eines Historikers großen Wert. Die Bergbezwingung als Testfall für den Endsieg. Wenn man so will, wurde der zweite Weltkrieg schon 1936 in der Eigerwand verloren.

Keine Nazis als Helden

So ganz traut sich "Nordwand“ dann doch nicht an die Sache ran. Wo Andi und Toni, immerhin als Gebirgsjäger in der Wehrmacht aktiv, politisch stehen, bleibt bewusst im Vagen. Immerhin sagen sie "Servus“ statt "Sieg Heil“ und müssen wegen Unbotmäßigkeit Latrinen schrubben. Zwei Nazis als Helden, das wollte man dem Publikum wohl doch nicht zumuten – warum nicht? – , und führt stattdessen das österreichische Konkurrenzteam Willi Angerer und Edi Rainer als von der SA gesponsorte Herrenmenschen ein. Und vor allem den Starjournalisten Henry Arau (schön asig: Ulrich Tukur), der um Luises Liebe buhlt und sich beim Dinner politische Wortduelle mit dem regimekritischen Fabrikanten Emil Landauer liefert.

Doch all das ist nur Vorgeplänkel. Die zweite Hälfte des Films steht – wie bei "Titanic“ – ganz im Zeichen des Naturdramas. Wetterumschwung, Steinschlag, Lawinen, bald ist einer der Bergsteiger verletzt, und mitten im Schneesturm macht sich die Truppe an den mörderischen Abstieg. Ende des historischen Ausstattungsfilms, die Gegenwart übernimmt, auch in der Filmästhetik: Keine heroischen Lichtinszenierungen markiger Männerprofile vor monumentalen Bergwelten, wie man es aus den ideologisch belasteten frühen Bergfilmen von Arnold Franck und Luis Trenker kennt. Sein Vorbild sei eher die moderne Kriegsfotografie gewesen, erklärt Stölzl. Also ganz nah dran, mit schwankender Handkamera live auf eisigen Stegen, und die Sicht ist ebenso schlecht wie die der Protagonisten in der Wand. Das Drama liefert nicht die Politik, sondern die Natur, und im Kampf mit ihr hat der Mensch schon immer verloren.

Und doch reißt die Faszination nicht ab. Auch weil sich auf makabere Weise gerade in den letzten Wochen wieder die Meldungen von Bergunglücken häufen. Am Tag der Premiere machte die „NZZ“ mit einem Text zum Thema auf: die Achttausender als "Arenen der Masseneinsamkeit“, von denen aus per Blog live in die ganze Welt übertragen wird – da sind die paar Journalisten und Sensationshungrigen, die 1936 von der Hotelterrasse aus das Drama in der Eigerwand beobachteten, harmlos dagegen. Vom Kitzel des teilhabenden Zuschauens, vom sensationslüsternen Voyeurismus von der sicheren Warte zehrt natürlich auch "Nordwand“.

Film über Techno-Zeit der neunziger Jahre ist weiterer Wettbewerbsteilnehmer

Extremerfahrung der ganz anderen Art gab es am Abend zuvor, auch auf der Piazza Grande: Da präsentierte Regisseur Hannes Stöhr mit "Berlin Calling“ einen Rückblick auf die Techno-Zeit der frühen neunziger Jahre in Berlin, mit Paul Kalkbrenner alias DJ Ickarus in der Hauptrolle als Künstler am Rande des Nervenzusammenbruchs. Drogen, Raves, harte Beats: ein bisschen "Einer flog über das Kuckucksnest“ mit einer verhinderten Psychiatrierevolte, und ziemlich viel authentisches Szenefeeling. Extremsport auch hier, nur mit dem Unterschied, dass am Ende Heilung und Läuterung steht, mit einem neuen Album, in dem sich der Musiker mit all seinen Schwächen präsentiert.

Die modernen Helden sind am Ende vernünftig geworden, das große Drama fällt aus. Dafür bringt DJ Kalkbrenner nach Filmende nachts um zwei die Piazza kurz zum Tanzen. Nach „Nordwand“ sind die Zuschauer ziemlich still gegangen.

Christina Tilmann

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