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Filmfestival Venedig: Die Lagune des Bösen

Chinesisches Elend, Brutales aus Brasilien – und das Gastgeberland Italien zeigt sich depressiv.

Das Thema ist heiß, ganz offensichtlich. Da hatte der „Spiegel“ in seinem Eröffnungsbericht kritisch bemerkt, dass im diesjährigen Wettbewerbsprogramm von Venedig auffallend viele italienische Filme zu finden seien, und schon sieht sich Kulturminister Sandro Bondi genötigt, eine Gegendarstellung an alle Journalisten zu verteilen: Festivalchef Marco Müller sei in seiner Filmauswahl unabhängig, und die stärkere Präsenz des italienischen Films sei allein dessen künstlerischem Aufschwung zu verdanken. Auch der „Corriere della Sera“ legt in seiner Festivalausgabe nach, ermittelt per Umfrage, dass 59,4 Prozent der Befragten an eine Renaissance des italienischen Kinos glauben, und bemängelt im Editorial höchstens, dass es so ein hässliches Italienbild sei, welches international vermittelt werde.

In der Tat: Filme wie der in zwei Wochen in Deutschland startende „Gomorra“ nach dem Bestseller von Roberto Saviano oder das in Cannes gezeigte Andreotti-Porträt „Il Divo“ vermitteln, so der „Corriere“, das Bild eines korrupten, zynischen, gewalttätigen, obrigkeitshörigen Landes. Dass man sich auf dem Lido in den ersten Tagen darüber aufregt, dass die italienische Polizei auf der Straße hart gegen Radler vorgeht, die beim Radfahren mit dem Handy telefonieren, passt ins Bild.

Finster ist das Bild auch in Ferzan Ozpeteks „Un giorno perfetto“, dem ersten italienischen Wettbewerbsbeitrag. Gewalttätig ist der Polizist Antonio (Italiens neuer Star Valerio Mastandrea), der verzweifelt darum kämpft, seine Frau und seine beiden Kinder zurückzugewinnen. 24 Stunden in einem herbstlich kalten Rom, bis die Familientragödie ihren (vorhersehbaren) Lauf nimmt. Sie alle strampeln wie die Hamster im Rad: Emma (herzzerreißend: Isabella Ferrari), die verzweifelt versucht, mit verschiedenen Jobs allein für ihre Kinder zu sorgen, und doch immer wieder angezogen wird von der leidenschaftlichen Liebe Antonios, aber auch ein Parlamentsabgeordneter, der dem Ende seiner politischen Karriere entgegensieht und weder seine junge Frau noch seinen Sohn mehr täuschen kann. Ein Schicksalpuzzle aus privaten Tragödien, das höchstens insofern politisch ist, als es die allgemeine Verunsicherung im italienischen Mittelstand spiegelt. Am Ende wählen sie wahrscheinlich alle Berlusconi.

Zweiter Film gleichen Namens: „Perfect Day“, der chinesische Überraschungsfilm in der Festivalsektion „Orizzonti“, zeigt noch prekärere Verhältnisse. Die junge Li, die mehr schlecht als recht in einer Industriestadt im Nordosten Chinas lebt, wagt den Ausbruch und begleitet einen geheimnisvollen Fremden für einen Kunstdeal nach Shenzhen im Süden. Dort begegnet sie der etwas älteren Jenny, die aus Angst vor ihrem Ehemann aus Hongkong geflohen ist. Man sieht minutenlang nur Arbeiter in Fabriken, Marktleben, Billigunterkünfte und das abendliche Leben auf der Straße: Emily Tang Xiaobais Film lebt von dem dokumentarischen Material, das sie in Shenzhen in den dortigen Fabriken aufgenommen hat. Bilder eines China, wie man sie auch während der Olympiade nicht gesehen hat. Peking ist weit, und die Modernisierungsmaßnahmen dort erreichen Shenzhen nie.

Dass nach der Olympiade alles noch schlimmer wird, vermutet auch einer der älteren Dissidenten in Wenhais Dokumentarfilm „We“, ebenfalls in der Sektion der „Orizzonti“. Fünf chinesische Oppositionelle berichten von Unterdrückung und Folter, aber auch von Demonstrationen, konspirativen Treffen und davon, wie man die Zensur im Internet überlistet. Ein ehemaliger Bürgermeister einer Kleinstadt, der so lange gegen Korruption ankämpfte, bis er der Partei gefährlich wurde, ein ehemaliger Staatssekretär von Mao Tse-Tung, der acht Jahre in Einzelhaft saß und nun, 90-jährig, so etwas wie Narrenfreiheit genießt, ein Lehrer an einer Provinzschule, der immer noch vergeblich von einem landesweiten Studentennetzwerk träumt: Sie alle versuchen, die Balance zwischen Opposition und Vorsicht zu halten, wollen nicht zu sehr auffallen und führen untereinander doch offenbar seit Jahren die gleichen Debatten. Die Revolution ist alt geworden, und mit ihr ihre Kritiker. Ein – bei aller Courage – deprimierendes Bild.

Dass China die Zukunft gehört, davon ist auch der hongkong-chinesische Regisseur Yu Lik Wai überzeugt, der seinen Wettbewerbsbeitrag „Plastic City“ allerdings in Brasilien gedreht hat. „Brasilien, Russland, Indien und China bilden die BRIC, die sogenannten ,emerging countries’“, erklärt er im Presseheft. „Ihnen gehört die Neue Welt. Es ist wie beim Spiel Monopoly: Der Einsatz ist hoch, die Regeln sind hart.“ Kein Wunder, dass in „Plastic City“ – so nennt man den Stadtteil Libertate in Sao Paulo, in dem viele asiatische Einwanderer leben –, das Blut in Strömen fließt, wenn es gilt, den umkämpften Markt mit gefälschten Markenprodukten zu beherrschen: Ein chinesisches Roulette der besonderen Art. Ästhetisch jedoch wirkt „Plastic City“ eher brasilianisch: harte Rhythmen, harte Schnitte, harte Schläge, harte Typen. Ein Macho-Kraftmeier-Kino, wie man es spätestens seit dem Berlinale-Gewinner „Tropa de Elite“ nicht mehr sehen möchte. Und in das sich leider auch der französische Autorenfilmer Barbet Schroeder mit seiner kriminalistisch-brutalen Japan-Exkursion „Inju“ einreiht.

Der Favorit bislang kommt aus einer ganz anderen Ecke, aus den unendlichen Weiten zwischen Mexiko und Kalifornien, und brilliert eher mit einem klugen Drehbuch als mit starken Effekten. Guillermo Arriga, gefeierter Drehbuchautor von „Amores perros“, „21 grams“ und „Babel“, verschränkt in seinem Regiedebüt „The burning plain“ so virtuos Ort und Zeit, dass der Zusammenhang erst nach zwei Dritteln des Films zu ahnen ist. Bis dahin folgt man vier Personen durch ihr Leben: einer frustrierten Ehefrau (Kim Basinger), die eine Affäre beginnt, ihrer Tochter, die sich in den Sohn des Liebhabers ihrer Mutter verliebt, einem alleinerziehenden Vater in Mexiko, der sein Geld damit verdient, per Flugzeug Insektenpestizide zu versprühen – und einer frustrierten Restaurantchefin (Charlize Theron), die einsam lebt, trotz vieler Liebhaber. Gerade Charlize Theron legt eine derartige Härte in ihre Rolle, dass es schwer auszuhalten ist.

Seltsamer Festivalglanz, mit Tilda Swinton, Nina Hoss, Isabella Ferrari und Charlize Theron: Sie alle spielen einsame, starke, verzweifelte Frauen. Wie passend, dass eine große Fotoausstellung im Festivalpalast Anna Magnani zum 100. Geburtstag gewidmet ist.

Christina Tilmann

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