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Filmfestival Venedig: Gewalt und andere Akte

Liebe ist schwere Arbeit: Das Filmfestival Venedig zeigt, wie Menschen einander zum Versuchsobjekt machen – bis hin zum Rassismus.

Eigentlich eine hübsche Idee, die Metapher mit den Primzahlen. Weil Primzahlen nur durch die Zahl eins und durch sich selbst teilbar sind, sind sie einsam – und Primzahlenmenschen folglich die einsamsten Menschen der Welt. Nur die Verdoppelungszauberkraft der Liebe könnte sie erlösen, hinein in die Gewöhnlichkeit der geraden Zahl. Aber was, wenn ausgerechnet die Liebe sich nur in der Teilbarkeit erfüllt?

Aus dieser Psychopseudomathematik hat Paolo Giordano sein Romandebüt „Die Einsamkeit der Primzahlen“ gebastelt und, erst 26-jährig, mit dem Premio Strega den wichtigsten Literaturpreis Italiens gewonnen. Es geht, wobei die Erzählung zwischen drei Zeitebenen oszilliert, um Alice und Mattia, die zueinander nicht kommen können: Alice muss, nach einem Skiunfall lebenslang humpelnd, den Spott ihrer Mitschülerinnen ertragen, Mattia ist, weil er als Kind durch Unachtsamkeit den Tod seiner Zwillingsschwester verursacht hat, gewissermaßen zum Zwangsprimzahlenmenschen geworden. Saverio Costanzos Verfilmung ist sein Bemühen um Bestnoten in Sachen Literaturadaption in jeder Einstellung anzusehen. In ausgesucht behutsamer Ausführlichkeit lernt der Zuschauer die von Alba Rohrwacher und Luca Marinelli mit einiger Hingabe verkörperten Protagonisten kennen: Er erduldet mit ihnen die immer wieder erneuerten Annäherungsqualen, wandelt mit ihnen in langen Rückblenden durch Gewittergüsse und Nebelgewalle der spätestmöglichen Konfrontation mit ihren Kindheitstraumata entgegen - und dann ist der Film nach 118 Minuten aus, ohne dass die Liebe angefangen hätte. Nun ja, fast. Immerhin.

Wie verfilmt man Einsamkeit? Bestimmt nicht, soviel lehrt diese so überladene wie unterinszenierte Etüde, mit 118 Ausrufezeichen. Andererseits erinnert Costanzos Beziehungslosigkeitsfilm immerhin an manche überzeugendere Beispiele dieses Genres, die im Kurzzeitgedächtnis eines Festivals leicht unterzugehen drohen. Da wäre etwa Tran Anh Hungs „Norwegian Wood“ mit der unvergleichlichen Rinko Kikuchi („Babel“). Auch dieser Film ist, nach Haruki Murakamis Roman „Naokos Lächeln“, einer Trauerarbeit gewidmet: Ein junger Mann begeht Selbstmord, und seine Freundin und sein bester Freund sind davon gleichermaßen traumatisiert. Kann eine Liebe zwischen so Übriggebliebenen sich erfüllen? Auch hier gibt es Regen, Nebel, Schnee, Kälte, ein Einstürzen von Sonnenlicht, aber nirgends muss ein anderweitiger Sozialrealismus als Kontrastmittel her, um die edle Wahrnehmungswelt der Hauptfiguren zu beglaubigen.

Auch durch Athina Rachel Tsangaris „Attenberg“ bewegen sich einsame Primzahlenmenschen mit fast spielerischer Selbstverständlichkeit. Eine 23-Jährige, die noch nie einen Mann geküsst hat und eigentlich auch nie einen küssen will, begleitet die letzten Lebenswochen ihres Vaters in einer kalten Mustersiedlung am Meer. Und dann probiert sie doch, wie das mit dem Männersex geht, ausgerechnet mit einem, den die Freundin bereits ausprobiert hat, und führt die Freundin dem Vater zu. Eine Dreiecksgeschichte, ein Nekrolog? Der hochartifizielle Film der Griechin feiert, in kindisch krakeelenden und großartig stillen Bildern, das Leben auf seine Weise: Er kostet daran, ohne es auszukosten. Und auf einmal schmeckt es, und wie.

Die beiden Paare in Antony Cordiers „Happy Few“ dagegen kosten das Leben aus, und wie. Perfekt verkörpert von Elodie Bouchez, Marina Fois, Nicolas Duveauchelle und Roschdy Zem, verlieben sie sich kreuz und quer und lassen für eine Zeit der sexuellen Transgression auch ihre jeweiligen Jungelternpflichten im Stich. Einzige Regel für die Versuchsanordnung: Alles geht, bis einer nein sagt, dann ist Schluss für alle. Das aufregendste – und keineswegs moralisch zu verstehende - Ergebnis dieses physikalischen Paarverdoppelungsexperiments ist nicht der Sex, sondern wie rasant hier welche, die alles zu teilen suchen, ihrer eigenen Primzahlenhaftigkeit näherkommen.

Die einsamste Figur dieser Festivalfilme aber ist Saartjie Baartman. So hieß eine elternlose südafrikanische Hausangestellte, die mit ihrem weißen Herrn Anfang des 19. Jahrhunderts nach Europa kam und von ihm jahrelang als „Hottentotten-Venus“ in London und Paris herumgezeigt wurde. Nach ihrem frühen Tod zerlegten Anthropologen – oder sollte man sagen: Rassenkundler? – die Leiche in Einzelteile, vermaßen das Gehirn und konservierten ihr Geschlechtsteil in Formalin, alles zum Beweis dafür, dass die Schwarzen den Affen ähnlicher als den Menschen seien. Erst 2002 wurden Saartjies sterbliche Reste an Südafrika übergeben und dort beigesetzt.

Abdellatif Kechiche, der vor drei Jahren in Venedig mit „Couscous mit Fisch“ einen Riesenerfolg feierte, hat, mit der Kubanerin Yahima Torrès in ihrer ersten Kinorolle, in „Vénus noire“ die historisch verbürgte Tragödie dieser Frau radikalstmöglich verfilmt. Denn die jeweils nahezu in Realzeit dargebotene Serie immer grenzverletzenderer Freakshows vor Londoner Pöbel und aristokratischen Pariser Libertins drängt auch das Kinopublikum in die Rolle von Voyeuren, also Profiteuren. Damit nicht genug: Indem Saartjie vom Südafrikaner Hendrick Caezar (Andre Jacobs) langsam in die Hände des Nachbarschaustellers Réaux (Olivier Gourmet) wechselt, wird sie vom exotischen Schaustück immer mehr zum Lustobjekt einer grundgeilen Gesellschaft.

So grandios Kechiche den Zwiespalt zwischen dem anfänglichem künstlerischen Selbstverständnis der Schwarzen und ihrem Abstieg in Alkoholismus und Prostitution in Szene setzt, so imponierend er das Zusammenwirken ihrer kommerziellen, sexuellen und schließlich wissenschaftlichen Ausbeutung analysiert: Am Ende bleibt ein Gefühl so allseitiger wie vereinzelnder Entwürdigung. „Vénus noire“, ein Gewaltakt in 160 Minuten, ist der Primzahlenfilm dieses Festivals. Bei der Pressekonferenz wirkte Kechiche, auf der moralischen Substanz seiner Schöpfung bestehend, wie der einsamste Mensch auf der Welt.

Weitere Festspielberichte aus Venedig unter www.tagesspiegel.de/kino

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