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Filmfestspiele in Venedig: Der Teufel trägt Lido

Labile Helden, depressive Familien: die 65. Filmfestspiele in Venedig mit Jonathan Demme, Kathryn Bigelow und Agnès Varda.

Stefano Disegni, der italienische Cartoonist, dessen gezeichnete Kommentare in der täglichen Festivalzeitung „Ciak in Mostra“ Kultstatus erreicht haben, hat den Gewinner des Goldenen Löwen schon ausgemacht, bevor er heute Abend bekannt gegeben wird. Es ist, angesichts der Vielzahl von depressiven, selbstmordgefährdeten oder sonst schwer labilen Protagonisten im Wettbewerb: eine Tablette Prozac. So gesehen ist auch Anne Hathaway, die dem Festival nach Tagen der Star-Abstinenz gegen Ende noch einmal internationalen Glanz verleiht, eine würdige Kandidatin. Ihre Kym in Jonathan Demmes „Rachel Getting Married“ stürzt ähnlich verheerend wie ein Meteorit in die mit den Hochzeitsvorbereitungen der Schwester beschäftigte Familie. Die Augen schwer kajalumrandet, die Haare schwarz gefärbt, ist diese Kym ein einziges schwarzes Loch voll negativer Energie. Für die Hochzeit ein Wochenende lang aus der Entzugsklinik entlassen, balanciert sie beständig zwischen Höhenrausch und Nervenzusammenbruch. Und alles, was sich nicht um sie dreht, wird systematisch zerstört.

Eine Herausforderung für Anne Hathaway, die bislang eher auf Prinzessinnen-Rollen abonniert war. Schon im vergangenen Jahr bezauberte die rehäugige Schöne in „Der Teufel trägt Prada“ den Lido, auch jetzt schwebt sie wieder im langen Rüschenkleid mädchenhaft zart über den Roten Teppich, wie eine jüngere Schwester von Audrey Hepburn. Schade nur, dass Regisseur Jonathan Demme und Drehbuchautorin Jenny Lumet – die Tochter von Sidney Lumet – ihre Studie über schwesterliche Rivalität in einer bürgerlichen Mittelstandsfamilie mit weiteren höchst dramatischen Elementen aufladen müssen: Die ganze Familie kreist um ein schreckliches Unglück, welches Kym einst verursachte und von dem keiner loskommt – auch nicht die somnambul durch den Film wandelnde Debra Winger. Dass der künftige Ehemann von Rachel schwarz und die Hochzeit ein einziges Multikulti-Fest ist, will Autorin Jenny Lumet gar als Parabel auf das künftige Obama-Amerika gelesen wissen.

Da sind die Erwartungen von Kathryn Bigelow schon konkreter. Ob sie dafür sei, dass die USA ihre Truppen aus dem Irak zurückziehen, wird die New Yorker Regisseurin gefragt. „Natürlich, sofort, am liebsten noch heute“, kommt die Antwort wie aus der Pistole geschossen. Und der Einzige, dem sie diese Entscheidung zutraue, sei: Barack Obama. So fordernd allerdings kommt „Hurt Locker“, ihr Wettbewerbsbeitrag über ein amerikanisches Bombenentschärfungsteam, nicht daher, eher als höchst spannende Studie, was Menschen unter extremen Umständen tun können. „Krieg ist wie eine Droge“, zitiert Bigelow zu Beginn den Journalisten Mark Boan, auf dessen Irak-Berichten der Film basiert. Und wie auf Drogen geht James (Jeremy Renner) durch die irakische Hölle, in der es täglich unter Lebensgefahr menschliche Bomben zu entschärfen gilt: eine Rambo-Figur, die den Kick braucht und dafür sein Leben und das seiner Kameraden aufs Spiel setzt. Später sieht man ihn auf Heimaturlaub im Supermarkt, vor einer endlosen Reihe mit etwa 50 verschiedenen Cornflakes-Packungen. So sinnlos komplex ist schon der Alltag – ähnlich komplex die täglichen Entscheidungen im Irak.

Sie habe zeigen wollen, was sonst nicht zu sehen ist, erklärt die Independent-Ikone Bigelow. Von den über viertausend amerikanischen Soldaten, die bislang im Irakkrieg umgekommen seien, habe man in den Medien weniger als ein Dutzend Bilder gesehen. Doch die Stimmung in der Bevölkerung habe sich gewandelt, hofft die Regisseurin. Wollte noch vor einem Jahr kaum jemand Filme wie Paul Haggis’ „In the Valley of Elah“ oder Brian de Palmas „Redacted“ sehen, die 2007 ebenfalls in Venedig präsentiert wurden und auf dem nationalen Markt dann kläglich scheiterten, sei inzwischen selbst bei Präsident Bush die Einsicht gewachsen, dass man den Menschen die Wahrheit sagen müsse, so Bigelow. Und doch wird man das Gefühl nicht los, dass „Hurt Watcher“ mehr für den heimatlichen Markt gemacht ist. Irak-Filme sind schließlich auch in den europäischen Kinos nicht gut gelaufen.

Da geht uns ein anderer Film, der versteckt in einer Nebenreihe läuft, schon näher. „La fabbrica dei tedeschi“ von Mimmo Calopresti schildet das schreckliche Unglück, bei dem im Dezember 2007 in der Turiner Stahlfabrik von Thyssen Krupp sieben Menschen ums Leben kamen. Ein Drama, das ganz Italien erschütterte – die Sicherheitsvorkehrungen im Werk waren völlig unzureichend – und von der deutschen Presse beschämend wenig thematisiert wurde. Nun begleitet man Mimmo Calopresti auf der Suche nach Angehörigen und Erklärungen. Und man sieht, wie es dem Regisseur die Sprache verschlägt, als er erfährt, dass Feuerlöscher nicht funktionierten, Löschwasserschläuche defekt waren und Zwischenfälle für die Arbeiter in der Fabrik dazugehörten. Der Prozess über diese mörderische Verletzung der Sorgfaltspflicht seitens des Unternehmens läuft noch – und Giorgio Napolitano, der italienische Staatspräsident, hat den Biennale-Verantwortlichen ausdrücklich gratuliert, das Thema ins Festival eingeführt zu haben. Die mitgeschnittenen Notruf-Telefonate aus der brennenden Fabrik, die man während des Abspanns hört, wird man so bald nicht vergessen.

Und rettet sich dann lieber in Nostalgie: mit Agnès Varda, die in „Les plages d’Agnes“ eine zauberhaft erratische Filmautobiografie vorlegt, die Strände ihres Lebens, an denen die noch immer mädchenhafte Regisseurin mit ihren Filmpreisen spielt, bis die nächste Welle sie alle begräbt. Oder mit Adriano Celentano, dem Star der letzten Tage, wie immer in weit offenem Hemd, Sonnenbrille und Goldkettchen, zu dessen Ehren die restaurierte Fassung seines Films „Yuppi Du“ von 1975 gezeigt wird.

„Yuppi Du“ ist ein Gruß aus einer anderen, wilderen Zeit. Flower Power in Venedig, ein Gondoliere zwischen zwei Frauen, Charlotte Rampling, mit Sonnenblumen im Haar, tanzt halbnackt am Strand, und am Ende swingt der ganze Saal mit dem Titelsong: Yuppi Du, Yuppi Du, Yuppi Du. So viel Party war nie, in diesem Jahr auf dem Lido.

Christina Tilmann

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