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Gangsterdrama: Das Leben ist ein langer, böser Trip

Erick Zoncas Gangsterdrama "Julia" überzeugt vor allem als Hymne - auf Tilda Swinton.

„Riesengiraffe“ hat ein Freund sie genannt. Giraffen sind schöne Tiere. Stolze Tiere. Aber immer auch leicht lächerliche Tiere, wie sie so dahinstaksen auf langen Beinen. Ja, Julia hat diese langen Beine, den langen Hals, den staksenden, schwankenden Gang. Besonders am Morgen, wenn sie sich, nach dem Absturz letzte Nacht, mühsam aus dem Auto windet, im viel zu hellen Sonnenlicht. Und über den Parkplatz taumelt, auf viel zu hohen Absätzen. Den Stolz zu bewahren unter diesen Umständen: schon eine Leistung. Wer will sich schon wiedererkennen nach dem letzten Rausch?

Wie ein fremdartiges Tier agiert diese Frau in fast jeder Umgebung, immer etwas zu groß, zu bunt, zu laut. In der Bar freitagnachts, in der sie fremde, feierabendtrunkene Männer an der Krawatte spazieren führt wie an der Leine. Im Job, wo sie sich nichts sagen lässt, auch bei der Kündigung nicht. Im Kreis der Anonymen Alkoholiker, wo sie bald entnervt den Raum verlässt. All diese Gutmenschen, die sich ihre Schwäche gestehen, unter mitleidigem Beifallsgemurmel der anderen: Ist ja wie im Zoo hier.

Dass diese schöne, starke Frau die eigentliche Gefangene ist im Menschenzoo namens Leben: Nichts klarer als das, am Morgen danach. Da ist der schöne Schein dahin, die Kleidung zerwühlt, die Zunge fährt über die trockenen Lippen, das Gesicht ist fahl und verquollen. Man meint all das zu riechen, den kalten Schweiß, den faulen Atem, die klebrige Haut. Was für ein Mut, sich so der Hässlichkeit des eigenen Körpers zu stellen. Was für ein Mut – für Tilda Swinton.

Und doch, zum Glück, entsteht hier kein Betroffenheitsdrama, sondern ein gnadenloses Powerplay, ein Marathonlauf mit ungewissem Ausgang. Julia ist eine Gefangene des Alkohols, eine Gefangene auch ihrer wachsenden Angst. Gegen die Abhängigkeit trinkt sie an, gegen die Angst lügt sie an, und sie lügt, wie sie trinkt: besinnungslos. Sie hat keine Chance und dennoch einen ungeheuren Überlebenswillen, der sie vom einen Tag zum nächsten, von einem Land ins nächste treibt, auf der Jagd nach Geld und Freiheit. Und von allen gejagt: von der Polizei, von Gangstern, vom wohlmeinenden Freund. Julia taumelt, Seiltänzerin ohne Netz, schwankt und fängt sich doch. Und wir halten den Atem an.

Eine großartige Tour de Force, die der französische Regisseur Erick Zonca („La vie rêvée des anges“) für sein US-Debüt seinem Star auf den langen, schönen Giraffenkörper geschrieben hat. Denn der wilde Plan, den kleinen Sohn der Nachbarin zu entführen, um mit dem Lösegeld alle Sorgen für immer los zu sein, misslingt natürlich – und Julia hat einen altklugen Knaben (Aidan Gould) am Hals, der mindestens so verängstigt und widerspenstig ist wie sie selber. Lange nicht mehr hat man ein so seltsames Paar gesehen, lange nicht mehr eine so vertrackte, schmerzhafte Annäherung. Denn ein Muttertier ist Julia keineswegs, und die Brutalität, mit der sie dem Knaben eine Pistole an den Kopf hält, ihn knebelt, betäubt und durch die Wüste schleift, wird von keinerlei Mitleid gemildert. Gerade in den USA, wo Mütterlichkeit und Familiensinn so eherne Werte sind, wirkt diese Figur wie eine Provokation.

Mag sein, dass Zonca Julia durch ein paar Genres zu viel jagt, durch Entführung, Erpressung, fast auch Mord – egal. Mag der mit 138 Minuten etwas überlange Film auch alle 20 Minuten Schauplatz, Ästhetik und Tempo wechseln und nebenbei John Cassavetes und Walter Salles, Fernando Meirelles und Quentin Tarantino kopieren – er bleibt doch immer ganz bei seiner nervösen, harten, unberechenbaren Protagonistin. Und vor allem verweigert der Regisseur ihr, was den Film unglaubwürdig machen würde: Läuterung. Einsicht. Happy End.

Noch nie, hat Tilda Swinton gesagt, hat sie sich in einer Rolle so sehr von sich entfernt. Noch nie war sie so stark.

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Christina Tilmann

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