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Kino: Hundert Stunden Einsamkeit

Schönheit des Schweigens: Michelangelo Antonioni, der große italienische Filmregisseur, ist tot

Unglauben zunächst, und ein fast makabres Déjà vu. Gleiche Zeit, gleiche Situation. Mitten in die Vormittagskonferenz platzt die Nachricht: Antonioni ist tot. Am Tag zuvor war es Ingmar Bergmans Tod gewesen, nun, am Dienstag, man spricht gerade noch über Bergman, über seine Filme, seine Frauen, auch darüber, wer wohl der Nächste sein wird in diesem Sommer des großen Sterbens, wo es innerhalb einer Woche Abschiednehmen hieß von George Tabori, Ulrich Mühe, Ingmar Bergman und Michel Serrault, immer den ganz Großen, im Fall von Tabori und Bergman gar Ahnvätern der Theater- und Kinokultur, da heißt es: Antonioni ist tot.

Michelangelo Antonioni, den so viel mit seinem schwedischen Kollegen Ingmar Bergman verbindet. Und der nun am gleichen Tag, am Montagabend, im Alter von 94 Jahren gestorben ist. Was doch ein wundersamer Zufall ist, falls man bei etwas so Dunklem wie dem Tod von Wundern reden kann. Und zum Trost mag man sich ausmalen, wie sich die beiden begegnen, im Jenseits, und über das Kino sprechen, im Kirchenhimmel vielleicht nicht, wohin es weder den zeitlebens finster mit der Kirche rechtenden Pastorensohn Bergman noch den existenzialistischen Modernisten Antonioni gezogen haben wird, aber im Himmel über allen Filmen. In jenem neblig-melancholischen Zwischenreich,wie es Antonioni von seiner Geburtsstadt Ferrara her kannte und wie er es immer wieder gezeigt hat, vor allem in seinen frühen Filmen. Oder sie treffen sich auf einer überwirklich sonnenüberfluteten schwedischen Sommerwiese, wie sie Bergman so liebte. Der Nordländer, der den Sommer feiert, der Südländer mit seinen kühlen Wintertagen, schon das zeigt, wie komplementär die beiden doch waren, mögen sie sich noch so sehr zeitlebens mit denselben Fragen herumgeschlagen haben. Und wie viel sie sich zu sagen haben.

Worüber mögen sie sprechen? Über Frauengesichter vielleicht, und darüber, wie man sie so ins Bild setzt, wie nur sie beide es konnten, in Großaufnahme, von innen leuchtend, schöne, starke, unglückliche Frauen, die so oft im Zentrum ihrer Filme standen: Monica Vitti, Jeanne Moreau oder Vanessa Redgrave bei Antonioni, Ingrid Thulin, Liv Ullmann oder Bibi Andersson bei Bergman. Vielleicht sprechen sie auch darüber, wie das ist mit der Liebe und den Frauen, diese beiden Regisseure, blendend aussehend in ihren besten Jahren, aristokratische Gestalten mit eindrucksvollem Profil,die in ihrem Leben nichts ausgelassen haben an Lieben und Liebschaften und Leiden daran. Ob es so etwas wie die Liebe überhaupt gibt oder nur Sex, quälenden Sex, wie vielleicht Bergman behaupten würde, oder ob nicht alles schon längst vorbei ist, aufgehoben in großer Gleichgültigkeit, wie Antonioni dagegenhalten könnte, dessen Filme vom Sex relativ wenig zeigen und umso mehr vom Schweigen danach.

Auch bei Antonioni, dem Gutsbesitzersohn aus Ferrara, der zunächst als Filmkritiker, ab 1947 dann als Regisseur arbeitete, tauchen in der Erinnerung nun Einzelszenen auf, die sich unauslöschlich eingebrannt haben. Die Schlussszene aus „L’Avventura“ zum Beispiel, der erbärmlich weinende Marcello Mastroianni auf der Terrasse des süditalienischen Luxushotels, der begreift, dass er durch Untreue, Fahrlässigkeit, Leichtsinn seine Liebe verspielt hat, und Monica Vitti, die er gerade betrogen hat, fährt ihm mit der Hand durchs Haar, Geste der Vergebung, Geste des Mitleids, doch nicht mehr der Liebe, das ist vorbei. Oder in „L’Eclisse“ der lange Abschied zu Beginn des Films, wiederum Monica Vitti, die ihren Liebhaber verlässt, den Koffer packt, in einem dieser kühl-modernistischen Wohnungsinterieurs des EUR-Viertels in Rom, zehn Minuten ohne Worte, es gibt nichts mehr zu sagen, und dann der lange Weg in der Morgendämmerung über die Hügel. Zum Schluss, nachdem es auch mit der leidenschaftlichen Liebe zu Alain Delon nichts war und beide nicht zum verabredeten Treffpunkt gekommen sind, streicht der Wind um die Straßenecke und treibt eine Tüte vor sich her.

Und noch eine Schlussszene, in „La notte“, dem dritten Film der Trilogie, mit der Michelangelo Antonioni seinen Ruhm begründete, diesmal mit Jeanne Moreau, fast noch trauriger als Monica Vitti, einsamer und stärker und schöner. Es ist der Morgen nach einer langen Party, sie sitzt mit Mastroianni im Gras und liest ihm einen Liebesbrief vor, seinen Liebesbrief, und er erkennt ihn nicht. Und beide stehen auf und gehen zurück, durch den grauen Morgen, der keinen Neuanfang bringt, sondern die Gewissheit des Endes.

Szenen ohne Worte, perfekt kadriert, als seien es in ihrer tiefen Eigentlichkeit Standbilder, Beweisbilder einer unerbittlichen, bitteren Erkenntnis. Immer wieder erzählt Antonioni von Entfremdung und Ernüchterung in der Liebe und davon, was passiert mit dem Menschen in der modernen Welt. Nicht umsonst hat er sich die Ikonen der Moderne als Schauplätze gewählt, das römische EUR oder die Wohnblocks von Mailand, Orte, die damals als chic und modern galten und denen er doch schon das Leblose, Menschenleere angesehen hat. Immer wieder auch zeigt er schnelle Autos, Luxusyachten, Flugzeuge und Flugplätze. Alles eigentlich dazu entworfen, das Leben der Menschen angenehmer, schneller, schöner zu machen. Es hat sie offenbar nur einsamer gemacht. Und ihnen, zur Strafe, die Sehnsucht gelassen.

Am deutlichsten ist das in „Blow Up“, Antonionis berühmtestem Film nach einer Kurzgeschichte von Julio Cortázar. Das Swinging London mit seinen Partys und Models, und mittendrin der zynische Fotograf (David Hemmings). Diesmal ein Farbfilm, nicht das leuchtende Schwarz-Weiß der Sechziger-Jahre-Trilogie, sondern seltsam gedämpfte, braungrundige Töne, wie schon in „Il Deserto Rosso“, wo der Fabrikqualm den ganzen Film einzufärben scheint. Und noch einmal gibt es eine Schlussszene, die Schlussszene überhaupt: ein verlassener Park, eine Gruppe von Gauklern, die wie aus dem Nichts auftauchen, der Tennisplatz, ein Schattenspiel, gespenstische Fröhlichkeit, und der Fotograf, der ewige Beobachter, greift ein, spielt mit, wirft den Ball zurück. Antonioni, der große Beobachter, hat den Ball weit ins Feld geworfen. Und noch keinen gefunden, der ihn mit gleicher Kraft zurückspielt.

Dass viele der späteren Filme schwächer waren, verzeiht man im Rückblick. Die Sehnsucht, noch einmal solche Szenen zu sehen, trägt weit – durch die amerikanischen Experimente von „Zabriskie Point“, voll heftiger Kapitalismuskritik, mit explodierenden Warenwelten und Träumen von freier Liebe im Sand. Oder „Beruf: Reporter“, mit einem überragenden Jack Nicholson: der scheiternde Versuch, die eigene Existenz loszuwerden und neu zu beginnen, doch das andere Leben ist nicht wirklich neu, nur schlimmer. Und noch eine berühmte Schlussszene, in der die Kamera durch das Fenstergitter geht, hinaus in die gleißende Sonne, die Freiheit, und wieder zurück, der Tod war schneller, schon da.

1985 dann Antonionis Schlaganfall: halbseitige Lähmung, die Unfähigkeit zu sprechen. Der Regisseur, der wie kein anderer Bilder für die Sprachlosigkeit fand, verstummt nun selbst – und macht doch weiter. Verlegt sich aufs Malen, leuchtend bunte, an Scherenschnitte von Matisse erinnernde Bilder, die zuletzt im vergangenen Jahr beim Filmfest in Rom zu sehen waren. Auch Gerüchte über Filmprojekte gab es immer wieder, 1995 kommt „Jenseits der Wolken“ ins Kino, Ko-Regie: Wim Wenders, nach Erzählungen und unter tätiger Mitarbeit von Antonioni. Ein Klon-Film, im dem nichts mehr von dem Timing, der Lakonie, der Wucht früherer Antonionis zu erkennen ist – und doch noch alles von der Suche, dem Streben, der Einsamkeit, die diesmal John Malkovich über die herbstlichen Straßen bei Ferrara treibt.

2004 schließlich wurde in Cannes der 17-minütige Kurzfilm „Lo Sguardo di Michelangelo“ vorgestellt, in Anwesenheit des Regisseurs, auch das schon eine Gedenkveranstaltung, eine Abschiedsstunde mit Standing Ovations, Verneigung vor einer lebenden Legende. „Der Blick des Michelangelo“, schön doppeldeutiger Titel, ist eine filmische Meditation angesichts von Michelangelos Moses in der Kirche San Pietro in Vincoli in Rom. Immer, wenn sie in Rom gewesen seien, habe Antonioni das Grab Julius II. mit dieser Moses-Figur besuchen wollen, berichtete Enrica, die Ehefrau des Regisseurs. Er habe sich vor die Statue fahren lassen und nur noch geschaut, der stumme alte Mann im Rollstuhl, mit einem Blick „eindringlich wie ein Gebet“. Auch das ein Zeitpunkt großer Einsamkeit, allein in der Kirche, im Angesicht Gottes. Ein letztes Bild, das bleibt, von Michelangelo Antonioni.

Christina Tilmann

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