zum Hauptinhalt
precht

© ddp

Kindheit ’68: Alles bleibt anders

Der Dokumentarfilm "Lenin kam nur bis Lüdenscheid“ rechnet nicht mit der überidealistischen Elterngeneration ab, sondern dekonstruiert auf sanfte und humorvolle Weise die linke Zeitgeschichtsschreibung.

„Jede Kindheit ist anders“, sagt der Autor im Off, „aber meine Kindheit war anders anders als die anderen Kindheiten.“ Wie ist es etwa, wenn man schon als Dreijähriger „Ho Ho Ho Chi Minh“ skandiert?

In „Lenin kam nur bis Lüdenscheid“ werfen der Autor Richard David Precht und der Kölner Dokumentarfilmregisseur André Schäfer einen anrührend anderer Blick auf das Achtundsechzigerjubiläum. Klein-Richards Eltern sind keine studentischen Zeitgeistrevoluzzer, sondern linke Familienmenschen. Der Vater arbeitet bei Krups. Gewohnt wird in einer Solinger Mietskaserne aus Nachkriegszeiten, später im Reihenhaus. Der Vietnamkongress, Rudi Dutschke, die Springer-Blockade – all das kennt die Familie nur aus dem Fernsehen. „Im Gegensatz aber zu vielen anderen“, stellt der Sohn fest, „nahmen meine Eltern die Erkenntnisse ihrer Zeit sehr ernst.“

Folglich werden zu den drei leiblichen Kindern zwei Waisen aus Vietnam adoptiert – und in der Großfamilie entsteht ein eigenes linkes Universum. Die antiautoritäre Erziehung, die anarchistischen Kinderbücher, die Agitprop-Songs von Franz-Josef Degenhardt: All das summiert sich im Kopf des Sohnes zu einer Meinungswelt, die mit der provinziellen Realität auf der Straße und in der Schule heftig kontrastiert. Auch die Verbotslogik der Eltern ist für die Kinder kaum zu durchschauen: Warum dürfen sie zu Hause die Wände bekritzeln und ohne Zähneputzen ins Bett, während Coca- Cola und der TI30-Taschenrechner im Matheunterricht streng untersagt sind?

Besonders bunte Blüten treibt im Kinderkopf die Idealisierung der DDR als sozialistisches Schlaraffenland. Mit leiser Ironie schildern Precht und Schäfer die wundersame Welt der westdeutschen Linken aus Kindersicht, ohne daraus gleich eine Therapiesitzung zu machen. „Lenin kam nur bis Lüdenscheid“ rechnet nicht mit der überidealistischen Elterngeneration ab, sondern dekonstruiert auf sanfte und humorvolle Weise die linke Zeitgeschichtsschreibung.

Manchmal allerdings scheint sich der Autor ein wenig hinter den historischen Kontexten zu verstecken. Nur in Zwischentönen etwa wird fühlbar, dass das Kind ein einsamer, versponnener Einzelgänger war. Hier hätten weitergehende Nachforschungen gutgetan – etwa über die Auswirkungen einer solch irritationsreichen Kindheit. Als die Mauer fiel, war Precht 22, und für ihn brach, noch einmal anders als für andere, eine Welt zusammen. Martin Schwickert

Broadway, FT Friedrichshain, Hackesche Höfe, Kulturbrauerei, Rollberg

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false