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Arta Dobroshi

© dpa

Kino: Komm zurück

"Lornas Schweigen“ heißt das Meisterstück der Regie-Brüder Dardenne. Mit ihrer Fixierung auf den Treibstoff Geld scheinen sie den Film zur Stunde gedreht zu haben – und sind doch auf etwas ganz anderes aus.

Geld bewegt die Welt. In fast jeder Szene ist es zu sehen, fast obsessiv hält die Kamera drauf: Geld in dicken Bündeln, das den Besitzer wechselt, Geld in abgewetzten Umschlägen, das im Garten vergraben wird. Geld in großen Scheinen. Geld in kleinen Scheinen. Geld, das auf Konten eingezahlt wird oder als Kredit erbeten. Sauberes Geld. Und schwarzes Geld.

Mit ihrer Fixierung auf den Treibstoff Geld scheinen die belgischen Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne den Film zur Stunde gedreht zu haben – und sind doch auf etwas ganz anderes aus. Denn mag es auch um Schwarzmarkt und Immigration, um Menschenhandel, Mafia und Scheinehen zwischen Russland, Albanien und Belgien gehen in ihrem neuen Film "Lornas Schweigen“ – so konkret politisch wollen die beiden Mittfünfziger, die seit Jahren mit ihren so stillen wie wuchtigen Filmen Furore machen, es im Gespräch doch nicht verstanden wissen. Es geht eher um die großen moralischen Fragen: Der Mensch hat die Wahl zwischen richtig und falsch. Und er entscheidet sich – oder es wird entschieden.

Wenn die schwarzen Männer kommen

Äußerst entschieden wirkt auch Lorna, zu Beginn des Films. Ein schönes, hartes Gesicht, eine schneidende Ungeduld in der Stimme: "Du hast mich jetzt schon drei Mal angerufen." Seltsame Beziehung, zwischen ihr und Claudy in der fast hotelmäßig unpersönlichen Neubauwohnung in Lüttich. Sie führen eine Scheinehe, damit Lorna die belgische Staatsangehörigkeit erhält. Kaum dass sie die nötigsten Worte miteinander wechseln. Gereizte Stimmung, zwei Raubtiere in einem Käfig, der viel zu klein ist.

Wie hinter dieser Entschlossenheit, dieser Härte, plötzlich etwas wach wird und lebendig, das ist das erste große Wunder dieses Films, das Wunder einer Menschwerdung. Mag sein, dass es zunächst nur Mitleid ist, Mitleid mit diesem Junkie, dem wimmernden Bündel Mensch, der nachts vor ihrer Tür heult: "Sprich mit mir" und dem sie das Wasser hinknallt wie einem Hund. Doch aus Mitleid wird Freundschaft, Verständnis, Nähe, und einen kurzen schönen Sonnenmoment scheint alles gut zu gehen, mit dem Entzug, mit dem Leben. Bis der Film seine unausweichliche Wendung nimmt, und alles läuft, wie die Männer es längst entschieden haben, jene schwarzen Männer, die nur das Geld kennen.

Von Alphawölfen umgeben

Wie Lorna, die so gern knallrote Hosen trägt und diesen Alphawölfen hartnäckig Widerstand leistet, wie ein erwachsenes Rotkäppchen am Ende den Ausweg findet aus dem eisern vorgezeichneten Verbrechen und zurück in den Märchenwald der Unschuld, das sei nicht verraten: Es ist ein zweites Wunder, das selbst Naturwissenschaft und Wirklichkeit schlägt.

Die Schauspielerin Arta Dobroshi mit ihrem entschlossenen Gesicht trägt diesen Film – und wird umgeben von vier Männern, Dardenne-Stammpersonal wie Olivier Gourmet in einem Kurzauftritt als Kommissar, Fabrizio Rongione als kriminellem Mittelsmann und vor allem Jérémie Renier, der eine herzzerreißende Performance als heroinabhängiger Claudy liefert.

Dass sie diesmal auf 35 Millimeter gedreht haben, nicht mehr so aufdringlich nah am Körper ihrer Protagonisten – vielleicht hat es auch damit zu tun, dass eine Frau im Zentrum steht, eine Fremde? "Wir wollten etwas Distanz wahren zu dieser Lorna, die so eine starke Ausstrahlung, eine Aura hat. Und ein Geheimnis, dem wir nicht zu nahetreten wollten", erklären die Regisseure.

Was heißt hier Gemeinschaft?

Zu sehr nahetreten jedoch kann man auch ihnen nicht, mit Fragen nach politischen Meinungen und persönlichen Überzeugungen, moralischen Einwänden und allgemeinen Deutungen. Die Philippika bricht erst los, als das Band nicht mehr läuft: eine Philippika über die Politik, die sich eine erweiterte EU samt den verdienstwilligen Neubürgern leistet, ohne die Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Zusammenleben im eigenen Land zu schaffen, und über die Mafia, die sich über Afrika und Osteuropa global verbündet und für die ein Menschenleben grotesk wenig gilt.

Im Film, wie in allen bisherigen Dardenne-Meisterstücken, geht es ohnehin nicht ums Allgemeine, sondern um den Prozess der Individualisierung, der Wahrnehmung des einzelnen als schützenswertes Individuum. "Le fils": Ein jugendlicher Straftäter lernt wieder leben und ein Vater vergeben. "L’enfant": Ein Kind ist keine Handelsware. Und eben "Lornas Schweigen": Auch ein Junkie ist ein Mensch.

Schließ mich ein

Fast ebenso oft wie Geldbündel sind übrigens Schlüssel im Bild. Schlüssel, mit denen Lorna sich ein und Claudy ausschließt. Schlüssel, die Schränke abschließen mit dem Ersparten darin. Schlüssel, die aus dem Fenster fliegen. Und Schlüssel, die Claudy immer wieder Lorna aufdrängt: "Schließ mich ein, damit ich nicht auf falsche Gedanken komme." Schließ mich ein heißt auch: Komm zurück. Den Schlüssel zu ihrem Geheimnis jedoch behält Lorna immer fest in der Hand, bis ganz zuletzt.

Sie hätten eigentlich geplant, den Film "Lornas Geheimnis" zu nennen, erzählen die Dardennes. Doch das Geheimnis hatte bald zu viele Mitwisser. So ist es "Lornas Schweigen" geworden.

Cinema Paris, fsk, Hackesche Höfe (alle OmU), Kino in der Kulturbrauerei, Passage, Filmtheater am Friedrichshain.

Christina Tilmann

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