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© Kurzfilmtage

Kurzfilmtage: Die Kamera zivilisiert

Grenzgänger und Unruhestifter bei den 54. Kurzfilmtagen in Oberhausen.

Ein amerikanischer Spielzeugsoldat spielt „God Bless America“ auf seiner Trompete – eine lange, unbewegte Kameraeinstellung, kurz darauf wird die Beinprothese des Soldaten sichtbar. „Prototype“ heißt der Kurzfilm von Martha Rosler von 2006, das bei den 54. Oberhausener Kurzfilmtagen im Programm „Capital Crimes“ zu sehen war, einem von zehn Programmreihen zum Schwerpunktthema „Grenzgänger und Unruhestifter“.

Festivalchef Lars Henrik Gass rückt den politischen Film wieder ins Zentrum und zeigt, dass die Grenzgänger und Unruhestifter nicht ausgedient haben. Vor mehr als 45 Jahren unterzeichneten Filmemacher wie Alexander Kluge das Oberhausener Manifest, heute provozieren die Regisseure auf ihre Weise. Entsprechend untersucht das Festival, ob und wie der politische Kurzfilm sich im Lauf der Geschichte gewandelt hat. „Für viele Leute war 9/11 sicherlich ein Anstoß zu bemerken, dass wir uns in einer globalen Krise befinden. Sie entwickeln ein Bewusstsein dafür, dass sie auch selbst betroffen sind. Sonst finden Krisen meist woanders statt, jetzt machen sich Einschränkungen der Bürgerrechte, der Bewegungs- und Meinungsfreiheit auch bei uns bemerkbar“, sagt Sherry Millner, eine der drei Kuratoren des Programms. Ein Grund dafür, dass Dokumentarfilme wie die von Michael Moore ein großes Publikum erreichen.

Die Auswahl präsentierte über fünf Jahrzehnte Filmgeschichte, Exemplarisches wie Exzeptionelles zur Frage nach der Wirkmacht der Bilder. So zeigt Alonzo Crawfords Zehnminüter„Crowded“ von 1978 das völlig überfüllte Gefängnis City Jail in Baltimore, in dem hauptsächlich Schwarze unter entwürdigenden Bedingungen einsitzen. Eine verdreckte Toilette in einer Zelle mit über 20 Doppelbetten ist nur durch einen Vorhang vom Rest des Raumes getrennt. „Das Gefängnis war dermaßen überfüllt,“ so der Filmemacher, „dass die Insassen bei der Frühstücksausgabe, die um sechs Uhr morgens begann, bis mittags anstehen mussten. Danach konnte man sich gleich wieder zum Abendessen anstellen.“

Crawford, der sich als eine Art Kiez-Regisseur versteht, ist davon überzeugt, dass Filme etwas bewirken können, wenn sich durch die magnetische Wirkung der Kamera eine community bildet, die Informationen auszutauschen beginnt und sich zum Widerstand formiert. Im Gefängnis von Baltimore haben sich die Haftbedingungen nach dem Dreh jedenfalls deutlich verbessert. „Hollywood-Filme sind wie Kokain“, behauptet Crawford „es ist der pure Konsum, die Menschen werden vom aktiven Prozess ausgeschlossen, Bilder und Rollen werden vermittelt, die sie zu noch mehr Konsum anregen sollen.“ Einer von zehn Schwarzen sitzt derzeit in den USA im Gefängnis – vieles an Crawfords Film ist immer noch aktuell.

Ein aktuelles Beispiel: Der 15-minütige Kurzfilm „The Land Belongs To Those Who Work It“ vom Chiapas Media Project (Mexiko 2005) zeigt ein Treffen der Zapatista mit mexikanischen Regierungsvertretern. Seitdem eine NGO die Zapatista in Chiapas für den Umgang mit den Medien schult, können sie ihre eigenen Dokumentationen über ihren Kampf gegen die Landeinnahme drehen. Die mexikanische Regierung will in der Region um Agua Azul ein touristisches Gebiet erschließen und kauft deshalb Land auf. Die Zapatista, die das Land bewirtschaften, wehren sich gegen die Anfänge dieser Privatisierung. „Wer auf dem Land anbaut, dem gehört es auch“, ist ihre Überzeugung.

Weil sie Kameras haben, liefen die Treffen mit den Regierungsvertretern gesittet ab. Brav nennen alle ihre Namen und jeweilige Funktion, die Zapatista notieren die Namen. Im Gespräch lassen die Parteien einander ausreden, den Regierungsvertretern ist eine fast übertriebene Zurückhaltung anzumerken. Der Film als Mittel gegen Einschüchterungsversuche von Minderheiten: „The Land Belongs...“ demonstriert eindrucksvoll die zivilisierende Wirkung der Kamera.

Fazit der Kurzfilmtage, die heute Abend mit der Preisverleihung zu Ende gehen: Die politischen Kurzfilme der Nach-9/11-Ära nähern sich ihren Themen weniger dogmatisch als ältere Produktionen. Oft beleuchten die Regisseure ein regionales Phänomen und dokumentieren den lokalen Widerstand, ohne dabei die Welt erklären zu wollen. Sie wollen weniger Ideologien verfechten, als das Denken in Gang setzen. In den meisten Fällen gelingt das ausgesprochen gut.

Erik Zimmermann

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