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Martin Provosts Biopic "Séraphine": Die Engelmalerin

Anrührend: „Séraphine“, Martin Provosts Künstlerinnenbiografie aus der französischen Provinz.

Wenn sie frei hat, nimmt sie den Korb und geht über die Wiesen. Bis zur großen Eiche auf dem Feld. Da klettert sie rauf, schnaufend, der schwarze Rock rutscht hoch, gibt stämmige weiße Arbeiterinnenbeine frei. Man muss schon auf Bäume klettern, wenn man etwas wie Freiheit spüren möchte, wo dort unten, auf der Erde, alles Mühsal und Arbeit ist.

In ihrem Heimatdorf Senlis ist sie die Lachnummer, die Putzfrau Séraphine. Eine gedrungene, ältliche Gestalt, die mit Körben beladen morgens durch die Straßen schleicht. Als sie sich dem deutschen Kunsthändler Wilhelm Uhde als Zugehfrau vorstellt, der 1912 in dem französischen Dorf eine Bleibe sucht, schaut der zweifelnd: Sauber wirkt diese Person nicht. Und wenn sie ihm seinen Nachmittagstee brüht – „Tee, Tee, immer wieder Tee!“ –, ist zunächst eher Befremden und Ablehnung zu spüren. Von Geistesverwandtschaft gar nicht zu reden.

Dass diese Séraphine heimlich und nachts in ihrer Mini-Mansarde malt, große, bunte, wilde Bilder, deren Farben sie zusammenmischt aus dem Kirchenwachs der Kerzen, aus Blut und Blüten, das ahnt niemand. Höchstens der Apotheker, der ihr immer wieder Bleiweiß verkauft, auf Pump, denn Séraphine ist arm. Aber sie hat einen Auftrag, von höherer Warte. Zwanzig Jahre hat sie in einem Nonnenkloster als Putzfrau gearbeitet, dann befahlen ihr Engel zu malen.

Um die Figur dieser vergessenen Naiven, deren Werke einst dem malenden Zöllner Henri Rousseau an die Seite gestellt wurden, hat Regisseur Martin Provost seinen in Frankreich sehr erfolgreichen Film gebaut: mit der großartigen Yolande Moreau in der Hauptrolle, die sich weder vor Hässlichkeit noch vor Grenzgängen scheut. In „Wenn die Flut kommt“ war sie die Zirkusfrau auf der Suche nach Liebe, auch dort eine Außenseiterin zwischen Genie und Wahn. Und in „Louise Michel“ die Arbeitslose, die aus Verzweiflung und Wut zu mörderischen Maßnahmen greift.

Auch „Séraphine“ zeichnet ein schwieriges Psychogramm, ohne Angst vor Entblößung und Peinlichkeit. Im Zentrum steht die so prekäre Beziehung zwischen Séraphine und Wilhelm Uhde. Denn kaum hat der Kunstkenner, von Ulrich Tukur mit Understatement gespielt, entdeckt, dass seine so schrullige Putzfrau geheime Talente hat, erwacht das professionelle Interesse – und vielleicht mehr. Es entsteht eine seltsame Liebesgeschichte ohne Liebe zwischen den beiden Außenseitern, der halb debilen, aber entschlossenen Amateurmalerin und dem homosexuellen, extravaganten Ausländer. Eine Freundschaft, genährt aus Hoffnungen, Neugier und Einsamkeit, und am Ende steht ein großer Verrat.

Provost und sein Drehbuchautor Marc Abdelnour erzählen das ruhig und etwas behäbig – und beschönigen nichts, auch Uhdes Feigheit nicht, der im Ersten Weltkrieg aus Frankreich flieht und, als er später zurückkehrt, von seinem Schützling nichts mehr wissen will. Die verlassene Séraphine verwahrlost, isst und trinkt kaum noch, aber malt und malt. Und als sie dann doch Bilder verkauft, schmeißt sie mit Geld um sich, kauft sich ein Haus und richtet es mit hinreißendem Protz ein. Und geht – Uhde, der noch einmal als Mäzen in ihr Leben tritt, hat mehr angerichtet als geholfen – im Hochzeitskleid durchs Dorf und verteilt Habseligkeiten, bis die Gendarmen sie festnehmen.

Die letzten zehn Jahre verbringt Séraphine in der geschlossenen Anstalt von Clermont-de-l’Oise. Gemalt hat sie nicht mehr. Die Engel haben geschwiegen.

Cinema Paris (auch OmU), Eiszeit,

FT Friedrichshain

Christina Tilmann

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