zum Hauptinhalt

Kino: Nur ein paar Meter Luft

Wo bitte bleibt das Berggefühl? Das Drama der Eiger-Besteigung in Philipp Stölzls „Nordwand“

Der Weltuntergang findet in den Ohren statt. Es schreit und heult und faucht und beißt sich mit heißkalten Zähnen in jedem Muskel, jeder Sehne, jeder Nervenfaser einzeln fest, es knallt und kracht, poltert, pfeift und prasselt von oben und von unten, von links und rechts, als würde die absehbare Totalerosion unserer schönen Alpenwelt nicht etwa in den nächsten Jahrzehnten oder Jahrhunderten stattfinden, sondern in diesen zwei einsamen Höllennächten in der Eigernordwand Anno 1936.

Der Berg wütet wie ein Lindwurm (fast mag man es ihm nicht verdenken): Gegen den erneuten Versuch seiner Erstbesteigung, gegen die nächsten vier jungheldischen Eroberer, die in Fels und Eis Leib und Leben riskieren, gegen all die lüsternen Fernrohre auf den Hotelterrassen unten in Grindelwald, gegen sich selbst, die rohe Natur – und sicher auch gegen eine Verfilmung, die enttäuscht, weil sie zwei effektsichere, lärmige Stunden lang nicht herausfindet, warum Menschen überhaupt auf Berge rennen. Was sie treibt. Was sie dort oben suchen. Den Himmel? Sich selbst? Die finale Entgrenzung?

„Nordwand“ erzählt die wahre Geschichte der beiden Berchtesgadener Bergkameraden Toni Kurz und Andreas Hinterstoisser, die sich Mitte der Dreißigerjahre vom grassierenden Eiger-Fieber anstecken lassen. In Garmisch-Partenkirchen und Berlin dräuen Olympische Spiele, Hitler will das „letzte Problem der Alpen“ punktgenau propagandistisch gelöst wissen. Am Berg selbst treffen die Deutschen auf eine österreichische Seilschaft, Willy Angerer und Edi Rainer (Simon Schwarz, Georg Friedrich), die ihnen zum Verhängnis wird. Nicht nur, dass die beiden strammen Nazis ihnen fieserweise einfach nachsteigen, sie stellen sich dabei so sichtlich tölpelhaft an, dass der eine bald schwer verletzt ist, und alle vier sich zur Umkehr entschließen.

Dann die Tragödie: Das fehlende Fixseil am heute berühmten „Hinterstoisser Quergang“ zwingt die Kletterer zu einer Direttissima. Das Wetter schlägt um, Stein- und Eislawinen explodieren in den Scharten, Rainer, Angerer und Hinterstoisser sterben. Nur Kurz überlebt und hätte um ein Haar noch gerettet werden können. Am Ende trennen ihn ein paar lächerliche Meter Luftlinie von den Männern der Schweizer Bergwacht, und wer das Originalfoto vom 23. Juli 1936 kennt, mit Kurz’ völlig vereister Leiche, die wie ein zerschellter Vogel am zu kurzen Seil überm Fels hängt, dem laufen noch heute Schauer über den Rücken.

Von der entsprechenden Szene im Film lässt sich das leider nicht behaupten. Ein letztes Mal darf Benno Fürmann hier mit beeindruckend schwarz gefrorenem Gesicht den Kopf anheben, ein letzter unnennbarer Laut entringt sich seinen Lippenresten, und was in diesem Augenblick in Luise Fellner (Johanna Wokalek) vorgeht, der Berliner Journalistin, die sich in den feschen Toni verliebt hat und ihm – groteskerweise! – barmend bis in die tosende Wand folgt, das haben Leni Riefenstahl und Arnold Fanck seinerzeit in der „Weißen Hölle vom Piz Palü“ packender, unkitschiger, weniger lätschert ins Bild gebannt.

Regisseur Philipp Stölzl hat also einen Bergfilm gedreht, notgedrungen – und ist das Genre schuldig geblieben. Gewiss, technisch ist dies alles ziemlich arriviert, dankenswerterweise hält sich vor allem der Pappmachéfaktor in Grenzen, wenn das Spektakel im zweiten Teil richtig losgeht. Stölzl aber handelt auch von jungen Menschen am Fuße einer dramatischen Zeitenwende – und interessiert sich keinen Deut für ihre innere Gestimmtheit. Fürmann darf mit stahlblauem Blick den großen Schweiger mimen (was insofern sein Gutes hat, als das gestochene Hochdeutsch dieser beiden oberbayerischen Buam einen jedes Mal aus dem Kinosessel reißt), Florian Lukas als Freund Hinterstoisser hingegen gibt mit Verve den ungestümen Naturburschen. Virtuos-witzig, immerhin: Ulrich Tukurs Porträt des Berliner Chefreporters Henry Arau als speckiges, aalglattes Wendehälschen.

Zum guten Schluss scheint Stölzl auch einen politischen Film gemacht haben zu wollen, einen, der das Gesellschaftspanorama der fetten Dreißigerjahre richtig fett aufreißt. Mit ein paar Hakenkreuzen allein ist dies freilich nicht getan, und auch die einschlägigen Schlagabtäusche beim Dinner im Hotel Bellevue auf der Kleinen Scheidegg bieten bestenfalls die Folie, die Fototapete des Gemeinten.

Zwei kleine Hinweise zur Rettung des Berggefühls: Das Vorwort zu Heinrich Harrers „Die weiße Spinne“ lesen, da steht alles drin. Und es nächsten Sommer Florian Lukas nachtun, der den Eiger inzwischen wirklich bezwungen hat. Über den Mittellegigrat. Schwierig genug.

In neun Berliner Kinos

Christine Lemke-Matwey

Zur Startseite