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Urfamilie. Mr. und Mrs. O’Brien (Brad Pitt und Jessica Chastain) mit ihren Kindern.

© 2011 Concorde Filmverleih

Philosophisches Kino: "Tree of Life": Gott guckt mit

Das Glück im Garten der Kindheit: Terrence Malicks phänomenales Filmwerk "Tree of Life" zeigt den Baum des Lebens, der alle Zeit umfasst.

Im Dasein liegt eine wesenhafte Tendenz auf Nähe, hat Heidegger gesagt, sinngemäß. Terrence Malick hat diesen Satz verfilmt, eigentlich macht er das immer schon. Aber er hat auch die gegenteilige Auskunft verfilmt: Alles um uns, unter uns und vor uns ist kosmische Gleichgültigkeit. Die Welt geht sowieso unter. Aus der Gleichzeitigkeit beider Unternehmungen ergibt sich folgerichtig: „The Tree of Life“ ist eine Zumutung, und was für eine! Er ist großartig.

Trotz der schlechten Aussichten, rein kosmisch gesehen, irrlichtern da ein paar Seelenfunken durch eine sommerlich träumende texanische Kleinstadt der fünfziger Jahre und glauben, sie selbst und ihr Garten und die kleinen Käfer im Gras seien alles, was es gibt. Man nennt solches Bewusstsein auch Glück.

Eine Mutter und ihre drei kleinen Söhne. Der Vater (Brad Pitt) gehört eher nicht dazu, Väter gehören fast nie dazu. Sie sind Agenten feindlicher Welten, der Erwachsenenwelten etwa. Zumindest in den Fünfzigern in Texas war das so, als dort in eben einer solchen kleinen Stadt mit den weißen Häusern unter den großen Bäumen auch ein kleiner Junge namens Terrence Malick aufwuchs.

Wahrscheinlich hat Malick damals schon gespürt, dass so ein Kindheitsgarten der einzig wirklich menschenwürdige Aufenthaltsort ist. Warum also müssen wir ihn verlassen? Menschen, die solche Fragen stellen und keine Antwort bekommen – alles, was sein Vater hätte antworten können, wäre Teil der Frage statt Teil der Antwort gewesen –, studieren manchmal Philosophie. Und da treffen sie dann Leute, die aus ganz anderen Gründen Philosophie studieren, nämlich weil sie endlich Ordnung schaffen wollen im Denken und Leben, peinlichste Ordnung.

Wer „The Tree of Life“ sieht, weiß, dass Malick zu ersten Gruppe gehört: Welch kosmische Unordnung, welche Vermischung des Unvermischbaren! Und es ist – um das gleich noch einmal zu wiederholen – atemberaubend.

Der Philosophiestudent Terrence Malick, bevor er zum Mit-Urvater des neueren amerikanischen Kinos wurde, fuhr schließlich von Havard nach Oxford, um eine Dissertation über Heidegger, Kierkegaard und Wittgenstein zu beginnen. Er hat sie nie beendet, hört man. Aber das ist ein Irrtum. Er hat diese Dissertation im Mai beim Weltkino in Cannes eingereicht und genau das dafür bekommen, was man für dieserart akademische Arbeiten verdient: eine Goldene Palme.

Malick vermisst nach Wittgenstein die Grenzen des Sagbaren neu. Worüber man nicht reden kann, davon muss man schweigen? Aber wir können doch über alles reden!, zeigt Malick. Und wenn wir trotzdem schweigen – es wird viel geschwiegen in diesem Film – dann aus tieferen Gründen. Eigentlich wird nur geschwiegen in diesem Film, obwohl wir immerzu Stimmen hören. Aber es sind Stimmen, wie sie aus dem Schweigen kommen und wieder dahin zurückgehen. Es sind Stimmen der Erinnerung. Wenn moderne Menschen ausdrücken wollen, dass sie miteinander reden, sagen sie: Wir kommunizieren. Kommuniziert wird hier überhaupt nicht, und – was zu befürchten war – es gibt auch keine Handlung.

Malick wollte den Lebensbaum porträtieren, der urtief in die Vergangenheit reicht und weit in die Zukunft, bis ans Ende aller Tage. Und doch ist das Bild des Baums zu statisch für das, was hier geschieht. „The Tree of Life“ hat die Dynamik und die Konsistenz jenes Films, der in jedem von uns abläuft, solange wir nicht schlafen oder mit dem Umstand konfrontiert sind, den Phänomenologen des Alkoholismus „Filmriss“ genannt haben. Es ist ein Bewusstseinsstrom, lauter Schwemmgut der Erinnerung in Satz- und Bildfetzen, kosmische Spekulation, alte Liedzeilen, versprengte Zitate neben Alltäglichstem. Aber das alles so, wie es die Erinnerung eben aufbewahrt: überhöht, im Positiven wie im Negativen.

Das ist Verklärung, das ist Kitsch!, könnten die unverbesserlichen Realisten rufen, wenn sie der elfenhaften, durch ihr Leben mit den Söhnen schwebenden Jessica Chastain zusehen. Keine Mutter schwebt, und schon gar nicht durch ihren Haushalt! Aber eben so sieht ihr Sohn Jack (Hunter McCracken) sie vor sich, wenn er als älterer Mann (gespielt von Sean Penn) an sie denkt.

Erinnerungen sind nicht zensierbar. Sie sind absichtslos und auch auf grausame Art präzise. So sehen wir Jacks Eltern eigentlich nie miteinander reden. Nun könnte man sagen, das ist Realismus, was haben Ehegatten schon miteinander zu reden? Aber es ist mehr: Für Jack gehörten sie nicht zusammen. Mutter und Vater – das ergab kein gemeinsames Bild.

Und so treibt dieser Strom immer weiter, höchst genau im Ungefähren. Seltsam, wie merkwürdig vertraut dieses haltlose Treiben scheint, ohne Handlung, ohne Dialoge, ohne Grund-Folge-Beziehung und was der gewöhnlichen Orientierungen mehr sind. Es müsste alle Denker der menschlichen Autonomie schon irritieren: Wir bestimmen nicht einmal, was wir denken – es denkt in uns.

Natürlich hat Malicks Bewusstseins-Mississippi Untiefen, Stromschnellen und Strudel, die den Regisseur verschlucken wollen. Wie es hier brodelt und Blasen schlägt – wahrscheinlich irgendeine Ursuppe oder das Sonneninferno am Ende aller Tage oder Malick schaut zu lange in den Ätna. So, das war’s, denkt man schon, Malick ist auch nur ein durchgeknallter Uraniafilmer. Er scheut nicht mal vor dem Sozialverhalten der Dinosaurier zurück, wohl um zu zeigen, dass da auf dem Weg zu uns nicht allzu viel passiert ist. Aber dann findet er den Übergang, den unwahrscheinlichsten aller Übergänge, und eigentlich ist es längst die entscheidende Minute zu spät, aber er fängt sie doch gleichsam rückwärts wieder auf. Malick hat mal eine Million Dollar Vorschuss für einen Film bekommen, der die Schöpfung mit den Augen Gottes anschauen wollte. Das ist, aus naheliegenden Gründen, nichts geworden, aber warum sollte er nicht ein wenig Material von damals verwenden, selbst wenn er diesmal ein Budget von 34 Millionen hatte? Man sollte nicht sparen bei der Schöpfung.

Malick ist der Meinung, dass man Gott an Aktivismus nicht zu überbieten braucht und dass sieben Filme – zuletzt „The Thin Red Line“ 1999 und „The New World“ 2006 – für ein Lebenswerk mehr als genug sind.

Gott also. Manch einer mag sich in der Redlichkeit seines Nichtglaubens provoziert fühlen. Allein wie das anfängt: Von zwei Wegen ist die Rede, während Jessica Chastain weinend durch die kleine Stadt läuft, vom Weg der Natur und dem der Gnade, und jeder müsse sich entscheiden. Zwar haben das nur die Nonnen gesagt, bei denen Jacks Mutter groß wurde, aber wenn Malick das nicht selbst ungefähr so sehen würde, hätte er sein Werk wohl kaum mit solch gebieterischer Alternative eröffnet. Andererseits, wen verkörpert Jacks Mutter? Nur zu offenkundig den Weg der Natur, des unverdorbenen Gefühls und Denkens.

Der Vater dagegen ist ein verhärteter Splitter Christentum, eine unglückliche Karikatur zu Max Webers „Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus“. Auch die Kunst ist tief solidarisch der Naturseite, selbst wenn sie oft nur zu genau weiß, was Gnade wäre. So genial-unordentlich dieser Film ist: Ein versteckter Gottesbeweis ist er niemals. Er ist unendlich übersetzbar, das ist sein Reichtum. Verloren sind wir, wenn wir die Fähigkeit verlieren, die absterbenden Sprachen zu übersetzen, auch die der Religion.

Sören Kierkegaard, die dritte Figur in Malicks unvollendeter Dissertation, hat einmal über den Unterschied zwischen einem Genie und einem Apostel nachgedacht. Ersterer reise grundsätzlich in eigenem Auftrag, letzterer habe immer schon einen. Welcher Künstler würde den Apostel wählen?

Ab 16. Juni im Kino

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